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Informationsblatt 32 Dezember 2020
Beiträge und Berichte
trat im November 1862 zurück, entmutigt durch den Obstruk-
tionismus gegenüber seinen Reformversuchen: „Ich habe die
Funktionen des Präsidenten erfüllt und festgestellt, dass der
Bey und insbesondere sein allmächtiger Minister Mustapha
Khaznadar sich nur unter dem Deckmantel der von diesem Rat
ausgehenden Entscheidungen diesen Reformen zur Legitimati-
on ihrer Missetaten hingegeben haben. Ich habe versucht, dies
zu tun. Zunächst einmal, um sie auf dem Weg der Loyalität
und Offenheit zum Wohle des Landes zu führen, zeigten mei-
ne Bemühungen kein Ergebnis und ich möchte durch meine
Präsenz im Geschäft nicht zur Mystifizierung meiner Heimat
beitragen, die gnadenlos in den Ruin gezogen wurde, deshalb
trat ich zurück.“
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Im Mai 1863 wurde zwischen Khaznadar und der Bank von
Erlanger eine Vereinbarung über ein Darlehen von 35 Millio-
nen Franken getroffen, das in etwa fünfzehn Jahren zurückge-
zahlt werden sollte, um die Staatskasse zu füllen und das Land
zu modernisieren. Dank des Kredits war Tunesien nun in den
Augen der Welt als aufstrebendes Land. Und auch Schliemann
spricht optimistisch von diesem Kredit, der – wie er berichtet
– sich daran beteiligte, indem er mehrere Millionen Franken
gezahlt und offenbar die von der Bank Erlanger an der Pariser
Börse ausgegebenen tunesischen Staatsanleihen gekauft hat-
te. Diese Aktion erschien jedoch in den Augen der Experten
bereits als echter „Betrug“.
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Tatsächlich ging das Kreditge-
schäft in kurzer Zeit in Rauch auf. Die Beys hatten sich vor
allem mit der Sanierung der Hauptstadt, der Schaffung neuer
städtischer Gebiete und eleganter Wohnviertel für Diplomaten
und Beamte befasst, so dass viele Aristokraten diese Mittel für
die Renovierung oder den Wiederaufbau ihrer Häuser genutzt
hatten. Um die Wahrheit zu sagen, hatte er es auch genutzt, um
das Aquädukt, eine Telegraphenlinie, zu bauen und die Armee
zu modernisieren, indem er allerdings veraltete westliche Waf-
fen kaufte.
Grundsätzlich wurde nichts für Strukturreformen unternom-
men, um die unternehmerische Stärke des Landes zu stärken,
so dass die Wertpapiere an den internationalen Börsen bald zu-
sammenbrachen und Tunesien seine Schulden nicht mehr be-
gleichen konnte.
Gier und Korruption hatten das Land in die Knie gezwungen.
Allein Khaznadar hatte fünf Millionen Franken Provision für
die Unterzeichnung des Darlehens eingesackt!
1864 war die wirtschaftliche Situation ernst und dringlich.
Schliemann selbst verweist auf dieses Klima der Spannung
und berichtet von der jetzt klaren Kritik der Menschen, die er
auf der Straße trifft, gegen den Bey und Khaznadar.
12 Arthur Pellegrin, Histoire de la Tunisie, Tunis 1975, S. 210.
13 Jean Ganiage, Les Origines du Protectorat Français en Tunisie.
1861-1881, Paris 1959; Nachdruck: Tunis 1968. Die Konfrontation
mit dem jüngsten Skandal der „argentinischen Bot“ entsteht spon-
tan, was zum Zusammenbruch eines der reichsten Länder der Welt
an natürlichen Ressourcen führte; vgl. Eduardo Galeano, Las Ve-
nas Abiertas de América Latina, Havanna 1971. Offensichtlich
wiederholen sich diese Ausbeutungsmechanismen zum Nachteil
der Entwicklungsländer durch weltwirtschaftliche Machtzentren
mit identischen zeitlichen und räumlichen Mechanismen.
Nur wenige Monate vor Schliemanns Ankunft am 22. März
1864 wurde beschlossen, die Steuer auf natürliche Personen
(die bereits im 17. Jahrhundert eingeführte „Mejba“) zu ver-
doppeln, und zwar in einem Land, in dem nicht nur die über-
wiegende Mehrheit der Bevölkerung im Allgemeinen arm war
und die Mehrheit der Frauen kein Einkommen erwirtschaftete.
Normalerweise war es die bewaffnete Armee, die Steuern ent-
weder in Geld oder in landwirtschaftlichen Produkten eintrieb.
Ein Gemälde im Nationalen Museum für Militärkunst in Tunis
zeigt uns die Brutalität dieser Sammlungen (Abb. 13).
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Wie ist der Aufstand ausgegangen? Einfach mit bewaffneter
Unterdrückung! (Abb. 14 und 15).
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Diese Entscheidung wurde
– wie Schliemann selbst im Tagebuch vom 2. Juni berichtet –
direkt vom Ministerpräsidenten getroffen: „Khaznadar sagte
mir, dass er morgen die Soldaten schicken wird, um den Auf-
stand zu unterdrücken.“
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Tatsächlich war er es - wie Schlie-
mann schreibt - der den Bey bei den wichtigsten Entscheidun-
gen beriet.
14 In dem großen Ölgemälde des Malers E. Bertrand de Moynier,
das jetzt im Nationalen Museum für Militärkunst in Tunis aus-
gestellt ist, ist zu diesem Zweck eine Militärexpedition innerhalb
des Landes vertreten (bezogen auf die Mitte des 19. Jahrhunderts)
hauptsächlich um Steuern zu erheben. Diese Armee, bekannt als
„mhalla“, bestand aus tunesischen Soldaten, Mamluken, Beam-
ten, Händlern und Handwerkern. Zu den Soldaten (Infanterie,
Kavallerie und Artillerie) gesellten sich irreguläre Truppen und
Ritter der örtlichen Stämme. Das Zelt des Beys steht in der Mit-
te des Lagers, umgeben von denen der Leibwächter des Bey und
der Verwaltungs- und Steuerbeamten. Der zukünftige Ali Bey III
(1882-1902) sticht in der Prozession zu Pferd hervor.
15 Das Gemälde mit dem Massaker an den „Kabili“
(
d. h. Randa-
lierern Berbern)
wird in Tunis im National Museum of Military
Art ausgestellt. Die arabische Überschrift links neben der Unter-
schrift lautet: „Die Schlacht von Jlass in Kairouan mit dem Fürs-
ten der Fürsten Hussein Rachid Agha“. General Rachid war Gou-
verneur der Region und der örtliche Emir.
16 Angesichts der zynischen Gleichgültigkeit frage ich mich, wie viel
Hass dieser Grieche aus Chios gegen die osmanische Welt haben
könnte, der als Kind den Mord seiner Familienmitglieder und sei-
nes Volk von den Türken gesehen hat.
Abb. 13 – „Steuererhebung“. Bild von Bertrand de Moynier (19.
Jahrhundert). Tunis, Nationalmuseum für Militärkunst