Seite 64 Informationsblatt 31 Februar 2020
Beiträge und Berichte
eine gemeinsame neue Übersetzung streitig machen wolle.
Die Beziehung zwischen beiden war in dieser Zeit sehr gestört
und belastete Voß außerordentlich stark. Trotzdem war er ent-
schlossen, die Übersetzung der „Ilias“ auch allein in Angriff zu
nehmen. Es wäre also nicht verwunderlich, in diesem Gemüts-
zustand den Auslöser für diesen Traum zu suchen, quasi als
„Rechtfertigung“ im höheren Auftrag (des göttlichen Homer)
gehandelt zu haben.
Dies ist vor allem deshalb anzunehmen, weil J. H.Voß (Abb. 3)
„Die Weihe“, in dem er den Traum schildert, als einleitenden
Gesang in der Erstausgabe der „Ilias“ (Hamburg 1793) mit dem
Vers „Stolberg, über der Stadt am besegelten Busen der Ostsee
...“ beginnt. Ein versteckter Hinweis auf den Grafen von Stol-
berg?
Dass auch Schliemann (Abb. 4) mehrmals „Traumgesichte“
hatte, die er in Briefen und Tagebüchern notierte, dürfte bekannt
sein. Darunter auch „Wachträume“, als er zum Beispiel vom Ida
aus auf die trojanische Ebene blickend die Kampfhandlungen
der Griechen gegen die Trojaner wie in einem Film lebendig
erlebte.
Am 9. Dezember 1890 schrieb Schliemann nach erfolgter
schwerer Ohrenoperation einen griechischen Brief an Alexan-
der Conze in Berlin. Er schildert die Operation und versichert,
dass laut Testament alle in seinem Haus befindlichen Altertü-
mer aus Troja, einschließlich der 1890 in Troja ausgegrabenen
Funde (Schatz L), die er illegal aus der Türkei nach Athen ver-
bracht hatte, ihre Heimstatt in Berlin finden sollen. Bemerkens-
wert ist, dass er die Auffindung der Äxte in einem besonderen
„haluzinatorischen Traum“, wie ihn E. Meyer nennt, zu Papier
bringt:
„Halle a/S. 9. Dezember 1890
Schliemann grüßt den hochverehrten Alexander Conze.
... Pallas Athene (Abb. 5) zeigte sich mir besonders gewogen.
So oft in meinem Leben schenkte die Göttin mir ihre Gunst,
daß ich schon glaubte, sie wende sich jetzt völlig ab von mir.
So kam es denn, als ich Ende Juni die Pallas vor mir stehen
und in den Händen die Schätze halten sah, die weit mehr wert
sind als die, welche ich in Mykene aufgedeckt habe, da geriet
ich in heftige Errregung; ungewollt fiel ich vor ihr auf die Erde
nieder. Ich weinte vor Freude, streichelte und küsste ihre Füße.
Vom Herzen sagte ich ihr Dank und bat sie eindringlich, daß sie
mir fürderhin gewogen bleibe und mir immerdar gnädig sein
möge. ...“
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Diesen Traum hatte er schon in Briefen an Virchow (Troia,
15. Juli 1890), an Fürst Bismarck (Troia, 22. Juli 1890), an v.
Gossler (Athen, 13. September 1890), und an Schöne (Athen,
9. Octbr. 1890) kurz erwähnt, allerdings nirgends so emotional
geschildert wie an Conze.
Es gibt darum eigentlich keinen Grund, diesen Traum als von
Schliemann erlebt anzuzweifeln. Verband er aber mit der Mit-
teilung an seine Briefpartner die Absicht, auch diesen heraus-
ragenden Fund in Umstände zu kleiden, die seine Auffindung
rätselhaft, geheimnisvoll, mythisch erscheinen lassen sollte?
Darüber ließe es sich fabulieren, spekulieren und diskutieren,
wir werden es nicht erfahren! Es ist so, wie es ist! Schliemann
schildert sein Traumerlebnis, welches ihn sicherlich wirklich
zutiefst bewegt hat.
Die Frage ist, weshalb Schliemann gerade Conze gegenüber
eine derart emotionale Schilderung seines Traumes vornimmt.
Der vorhandene Briefwechsel mit ihm umfasst nur 15 Briefe.
Alles andere als eine große, geschweige denn intime Korre-
spondenz! In den 1870er Jahren bezeichnete er ihn Brockhaus
gegenüber noch als „Ruhestörer“ und in einem Brief an die
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Ernst Meyer: BW II, S. 390.
Abb. 4 – Schliemann-Büste von Walther Preik im Schlie-
mann-Museum (Foto: R. Hilse)
Abb. 3 – Voß-Büste von Walther Preik in Penzlin
(Foto: R. Hilse)
Abb. 5 – Büste der Göttin Athene