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Seite 55

Informationsblatt 29 April 2018

Endlich ist es soweit. Zwei lange Jahre sind um und die Schlie-

männer und -frauen gehen wieder auf Studienfahrt. Dieses Mal

in die Stadt Wien. Ich freue mich schon Monate vorher darauf,

denn ich darf wieder mitfahren und ich war noch nie in der ös-

terreichischen Hauptstadt.

Schon auf der Busfahrt zum Hotel bekomme ich so eine unter-

schwellige Ahnung, dass es mit der Erwartungshaltung von ein

wenigWiener Historie, Maria Theresia, Kaiser Franz und einem

Sissi-Gefühl nicht reichen wird. Die prachtvollen Gebäude, die

an uns vorbeirauschen, die ersten Erklärungen des Reiseleiters

– kurzum – mein Stift raucht gleich in der ersten halben Stunde

ob der vielen Notizen, die ich mir mache.

Wo soll ich anfangen?

Vielleicht beim Namen? Die Stadt hat ihren Namen von ei-

nem Fluss. Er wurde

in Wien in ein künstli-

ches Betonbett verlegt,

um verheerende Über-

schwemmungen

zu

verhindern. Als wir ihn

kurz sehen, können wir

es kaum glauben. Die-

ses kleine Rinnsal ist

also der Namensgeber:

der Wienfluss (Abb. 1).

Oder sollte man damit beginnen, dass Wien ca. 1,8 Millionen,

mit Umland ca. 2,6 Mio. Einwohner hat?

Oder ich fange politisch an: Dass seit 1913 die SPÖ (die Roten)

immer wieder die Mehrheit erlangt und für Wien viele sozia-

le Projekte umgesetzt hat? Z. B. kostenloses Studieren. Des-

wegen hat Wien derzeit ungefähr 190.000 Studenten aus aller

Welt. Und deswegen ist Wien eine junge und sehr innovative

Stadt. Kostenlose Kindergärten, viele Sozialwohnungen, keine

Armenviertel.

Da nach dem Krieg die Wohnungsnot besonders groß war, 1917

drei Viertel der Wohnungen überbelegt waren, wurde Anfang

1920 beschlossen, mehrere tausend Wohnungen neu zu bauen.

Der Grundstein für den Wiener Gemeindebau war gelegt. Das

Ziel war, billige Wohnungen für die Arbeiter zu errichten. Es

wurden bekannte österreichische Architekten mit der Planung

beauftragt. So entstand keine Wohn-Massenware, sondern ar-

chitektonisch ansprechende Wohnbauten, Besonderheiten, die

heute zum Kulturgut Wiens gehören. Mit rund 220.000 Ge-

meindewohnungen ist fast jede vierte Wiener Wohnung eine

Gemeindewohnung. Jeder hat ein Anrecht auf diese preisgüns-

tigen Wohnungen. Voraussetzung ist eine bestimmte Verdienst-

grenze, man muss 18 Jahre alt sein und mindestens 5 Jahre in

Wien wohnhaft sein. Und man darf kein Eigentümer einer Woh-

nung sein. Wenn man dann dort wohnt und im Laufe der späte-

ren Jahre mehr verdient, wird man nicht vor die Tür gesetzt. Die

Miete beträgt maximal bis 7,50

pro m² warm, mit Internet-

anschluss. Billiger gegenüber Salzburg und den anderen großen

Städten Österreichs!

Die Wohnungsnot war so akut, dass selbst in vielen bedeuten-

den historischen Bauten, z. B. Schloss Schönbrunn und das

Belvedere, in den Seitenflügeln und oberen Etagen, also in den

damaligen Zimmern der Bediensteten, Wohnungen hergerichtet

wurden.

Im ersten Stadtteil, also dem historischen Wien ist es natürlich

„etwas“ preisintensiver, ca. 13 – 23

pro m². Womit wir schon

beim nächsten Punkt wären. Wieso der erste Stadtteil?

Ich könnte meinen Bericht auch so anfangen: Wien ist in 23

Gemeindebezirke eingeteilt. Zu erkennen an der Zahl auf je-

dem Straßenschild vor dem Straßennamen. Ich steige aus der

U-Bahn, sehe auf dem Straßenschild die Zahl 7 und weiß so-

fort: Falsche Richtung – mein Hotel liegt im 6. Bezirk, also um-

drehen. Sehr praktische Erfindung.

Das historische Wien (der größte Teil des 1. Bezirks) war umge-

ben von einer Wehranlage mit 300-400 m breitem Wiesenstrei-

fen für freie Sicht auf mögliche Angreifer. Als der Wall über-

flüssig wurde, hat Kaiser Franz Joseph Ende 1857 beschlossen,

in den folgenden Jahren die alten Bastionen abzureißen und

Platz für Neues zu schaffen – übrigens: Walzerkönig Johann

Strauß (1825-1899) fand auch dafür eine passende Musik, die

„Demolirer-Polka“ op. 269.

Daraus entstand der erste Ring um die Altstadt – die berühmte

Wiener Ringstraße, als Repräsentationsboulevard geplant und

heute eines der prachtvollsten Boulevards der Welt. Sie ist 5,2

km lang und damit länger als der Newski Prospect in Sankt

Petersburg und doppelt so lang wie die Avenue des Champs-

Élysées in Paris.

Hier findet man, wie aufgefädelt, die bedeutendsten und reprä-

sentativsten Gebäude Wiens. Die Staatsoper (dahinter übrigens

das berühmte Hotel Sacher), das Burgtheater, das Parlament,

das Kunst- und das Naturhistorische Museum, das Rathaus, die

Universität und quer dazu die Neue Hofburg. Die Ringstraße

versammelt einen Stilmix aus fast allen Epochen. Und trotzdem

wirkt es als ein Gesamtkunstwerk. Diese Art des Bauens bekam

dann auch prompt einen eigenen Namen – eben der Ringstra-

ßenstil. Heute gehört der gesamte Straßenzug, weil stilbildend

für die Architektur, zum Weltkulturerbe „Historisches Zentrum

von Wien“. Dabei wurden die vorhandenen Erholungsräume

bis heute teilweise erhalten. Davon zeugen die großen Grünan-

lagen, wie der Stadtpark, der Burggarten, der Volksgarten, der

Rathauspark und andere.

FürLastfuhrwerkewurdedieparallel verlaufende „Lastenstraße“

– sprich: Zweierlinie – errichtet (benannt nach der U-Bahn Li-

nie 2). Der dritte Ring ist der Gürtel. Er ist die am stärksten

befahrene Landesstraße in Österreich und eine der meistfre-

Beiträge und Berichte

Reise von Mitgliedern der Heinrich-Schliemann-Gesellschaft nach Wien

(vom 28. Juli bis 4. August 2017)

Abb. 1 – Wienfluss