Seite 42 Informationsblatt 24 Dezember 2012
Beiträge und Berichte
es nicht verwundern, dass Meyers Briefauswahl und die von
ihm vorgenommenen Textkürzungen tendenziös waren.
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Ernst Meyer suchte den Kontakt zu den Kindern Schliemanns
aus der griechischen Ehe, Andromache und Agamemnon, um
deren Zustimmung für die Arbeit mit dem schriftlichen Nach-
lass ihres Vaters zu erwirken. Sophia Schliemann war 1932
verstorben. Die positiven Verlautbarungen Meyers und sein
Versprechen, Schliemann seine zukünftigen Forschungs- und
Publikationsvorhaben zu widmen, veranlassten die Kinder
nach anfänglichem Zögern, Ernst Meyer auf dessen Bitte das
alleinige Veröffentlichungsrecht zu übertragen. Zur sicheren
Aufbewahrung deponierten sie den noch ungeordneten und
nicht archivierten schriftlichen Nachlass ihres Vaters als Leih-
gabe in der Gennadius Library. In den folgenden drei Jahren
wertete E. Meyer mit „oberstem Segen“ Schliemanns Nachlass
in Athen aus. Im „Niederdeutschen Beobachter“ verkündete er
1944: „Der Initiative unseres Gauleiters und Reichsstatthalters
Friedrich Hildebrandt ist es zu verdanken, daß mir die Mög-
lichkeit gegeben wurde, mich von 1937 ab dieser Arbeit zu
widmen.“ Meyer wurde dafür vom Schuldienst freigestellt.
Nachdem die deutsche Armee im Jahre 1941 Griechenland
besetzt hatte, erschien Ernst Meyer im April 1942 als unifor-
mierter Kulturoffizier in der Gennadius Library. Er entnahm
die von ihm benötigten Archivalien, um sie in seinem Athe-
ner Quartier auszuwerten. Eine Kontrolle des Entnommenen
durch die Library war nicht mehr gegeben. Zwei Handkoffer
mit Schliemann-Archivalien, die Meyer „ausgeliehen“ und
vor Kriegsende 1945 im Staatsbunker Paulshöhe in Schwerin
deponiert hatte
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, sind bis heute zum größten Teil nicht wie-
der aufgetaucht. Meyer war überzeugt, dass die Koffer in die
Hände der sowjetischen Besatzungsmacht gelangt waren und
bemühte sich nach 1946 darum, deren „Freigabe“ zu erwirken,
was ohne Erfolg blieb.
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Meyer setzte sich 1952 nach Westber-
lin ab. Dort waren dann einige Archivalien aus Meyers Koffer
in einem Antiquariat zum Kauf angeboten und von Meyer er-
worben worden!
Ernst Meyer setzte seine Schliemannforschungen fort, war
aber auch in der Folgezeit sehr darauf bedacht, keinem ande-
ren Forscher Einblick in Schliemanns Nachlass zu gewähren.
Immer wieder berief er sich gegenüber der Leitung der Library
auf die schriftliche Zusage des Sohnes Schliemanns, dass er
die alleinige Berechtigung zur wissenschaftlichen Bearbei-
tung und literarischen Verwertung des schriftlichen Nachlas-
ses besitze. Eifersüchtig wachte er über den nach seiner Mei-
nung ihm gehörenden Nachlass, niemand außer ihm sollte die
Möglichkeit erhalten, über Heinrich Schliemann zu schreiben.
25 Jahre blockierte Meyer so den Zugang anderer Forscher zu
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Ausführlicher bei W. Bölke, Schliemanns Kindheit im Spiegel seiner Bio-
grafen. In: Heinrich Schliemann nach hundert Jahren. Hrsg. W. M. Calder
III und J. Cobet, Frankfurt/Main 1990, 174 ff.
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E. Meyer (Hrsg.), Heinrich Schliemann – Briefwechsel, II. Band von 1876
bis 1890, 411.
12
Akte „Ernst Meyer“, Mecklenb. Landeshauptarchiv (Sign. 2652), bein-
haltet den unveröffentlichten Briefwechsel E. Meyers mit der Landes-
regierung Mecklenburgs, Ministerium für Volksbildung, Eine Veröffent-
lichung ist vom Autor geplant.
Schliemanns schriftlichem Nachlass.
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Das bekam besonders
der in der DDR lebende erfolgreiche Schliemannbiograph
Heinrich Alexander Stoll (1910-1977) zu spüren, der durch sei-
ne populäre Schliemann-Romanbiographie „Der Traum von
Troja“
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bekannt geworden war. Ende der 50er Jahre arbeitete
er an seinem neuen Schliemannbuch „Abenteuer meines Le-
bens“ mit Selbstzeugnissen Schliemanns
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und nahm Hilfe su-
chend Kontakt zur Gennadius Library auf. Meyer wollte dies
verhindern und scheute nicht davor zurück, Stoll als laienhaf-
ten Schriftsteller herabzusetzen, ihn politisch zu diffamieren
und nach Erscheinen des Buches Stoll des geistigen Diebstahls
zu bezichtigen.
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1953 und 1958 erschienen zwei weitere Editi-
onen Meyers mit Briefen Schliemanns.
1954 starb Agamemnon Schliemann in Paris. Er übertrug die
alleinige Verfügung über den Nachlass des Vaters auf seine
Schwester Andromache, diese wegen ihres hohen Alters bald
auf ihre Söhne Alex und Lenos Melas. 1962 wurde der Schlie-
mann-Nachlass von Schliemanns Nachfahren für 15.000 $ an
die Gennadius Library verkauft. Erst danach hatten auch an-
dere Schliemann-Forscher ungehinderten Zugang zu Schlie-
manns Nachlass. Jetzt konnte die Gennadius Library selber
entscheiden, wem sie Zugang zum Nachlass gewährte.
1966 konnte der Nachlass durch den Ankauf von 650 bisher
unbekannten Briefen sowie von 29 Diplomen und Urkunden
Schliemanns aus dem Besitz der Nachfahren erweitert wer-
den. Eine kritische Sichtung und Auswertung des Nachlasses
begann aber erst nach Meyers Tod im Jahre 1968.
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Über die Blockaden Meyers berichtet S. A. H. Kennell, Schliemann and
his Papers. A Tale from the Gennadeion Archives. In: Hesperia 76, 2007,
785-817.
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H. A. Stoll, Der Traum von Troja, Leipzig 1956.
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H. A. Stoll, Abenteuer meines Lebens, Leipzig 1958.
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Der Autor dankt Herrn Unterdörfer für die Bereitstellung von Briefkopien
aus Stolls Nachlass und seine Zustimmung für deren geplante Veröffent-
lichung. Sie betreffen die Briefe der Gennadius Library an H. A. Stoll und
einen Schriftverkehr zu den Plagiatsvorwürfen E. Meyers.
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Ausführlich: Kennell 2007.
Archiv der Gennadius Library mit den Schliemann-Archivalien
(Foto W. Bölke)