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Informationsblatt 24 Dezember 2012
Beiträge und Berichte
Das Schicksal des schriftlichen Nachlasses Heinrich Schliemanns in Athen.
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Heinrich Schliemann hat nach seinem Tode am 26. Dezem-
ber 1890 der Nachwelt ein umfangreiches Schriftgut hinter-
lassen. Es besteht aus mehr als 60.000 Briefen, 18 Reise- und
Grabungstagebüchern, Geschäftsbüchern, Manuskripten u. a.
Dokumenten. Der sprachbegabte und schreibbesessene Kauf-
mann und Archäologe beherrschte 20 Sprachen und hinterließ
seinen schriftlichen Nachlass in einer Vielzahl dieser Spra-
chen. Trotz des großen öffentlichen Interesses an seiner Person
und unzähligen Biographien ist sein schriftlicher Nachlass bis
zum heutigen Tage nur zu einem geringen Teil ausgewertet
und publiziert worden. Woran liegt das?
Schliemanns in Athen.
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Der schriftliche Nachlass Schliemanns wird seit dem Jah-
re 1936 in der Gennadius Library in Athen aufbewahrt. Sie
gehört zur American School of Classical Studies, einer pri-
vaten Stiftung, die seit 1882 mit archäologischen Arbeiten in
Griechenland begonnen hat. Die Library ist in einem beein-
druckenden neoklassizistischen Marmorgebäude im vorneh-
men Viertel Kolonaki am Fuße des Lykabettos untergebracht
(Abb. 1). Begründer und Stifter der Library, die heute eine
alle Facetten griechischer Kultur umfassende Sammlung mit
119.000 Büchern und bibliophilen Kostbarkeiten beherbergt,
ist der griechische Diplomat und spätere Minister Joannis
Gennadeios (1844-1932). Er entschloss sich 1921, seine kost-
bare und umfangreiche Bibliothek dieser Einrichtung zu über-
geben, als diese sich bereit erklärte, dafür ein eigenes Biblio-
theksgebäude erbauen zu lassen. Dieses wurde im Jahre 1926
eingeweiht. Das Archiv der Bibliothek beherbergt heute die
Hinterlassenschaften bedeutender Dichter und Schriftsteller
Griechenlands.
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Erweiterte und aktualisierte Fassung eines Artikels des Autors, der am
27. 12. 2011 im „Mecklenburg Magazin“ der SVZ und am 2. 1. 2012 im
„Heimatkurier“ des Nordkurier unter dem Titel „Nachlass eifersüchtig
bewacht“ erschienen ist. - Der Autor hielt am 25. 3. 2011 im HSM An-
kershagen zum Thema „Schliemanns schriftlicher Nachlass in der Gen-
nadius Library in Athen“ in einer ausführlicheren Fassung einen Vortrag,
der im nächsten Heft der „Mitteilungen“ gedruckt werden soll.
Im Jahre 1928 bat die noch in Schliemanns Wohnpalast „Iliou
Melathron“ in Athen lebende griechische Witwe des verstor-
benen Archäologen, Sophia Schliemann, den Bestsellerautor
Emil Ludwig (1881-1948), eine Biographie über ihren Mann zu
schreiben.
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Von Ludwig waren bereits viel gelesene Roman-
Biographien über Goethe, Napoleon, Bismarck und Wilhelm
II. erschienen. Sophia Schliemann stellte ihm dafür den ge-
samten schriftlichen Nachlass Schliemanns zur Verfügung,
der sich zu dieser Zeit noch in ihrem Besitz befunden hatte.
Ludwig, der einen geschärften Blick für „das Dunkel hinter
dem Lichte“ besaß, hatte es sich zur Aufgabe gemacht, „bei
völliger Wahrheit … das Bild eines echten Menschen mit sei-
nen Widersprüchen zu gewinnen.“
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Das Ergebnis war eine
für die damalige Zeit bemerkenswert kritische Schliemann-
Biographie, die sich nicht an das überlieferte Schliemann-Bild
hielt. Dies war bis dahin von der 1881 veröffentlichten Selbst-
biographie Schliemanns bestimmt worden, die seine Witwe
im Jahre 1892 überarbeiten und ergänzen ließ.
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Ludwigs Dar-
stellung stand im Widerspruch zu Schliemanns eigenen Schil-
derungen und entsprach weder den Vorstellungen der Familie
noch seiner Freunde und zahlreichen Verehrern. Das betraf
vor allem die geschilderten traumatischen Kindheitserlebnis-
se Schliemanns und das negative Wesen seines Vaters, eines
evangelischen Pfarrers.
Emil Ludwigs Biographie mit dem Titel „Schliemann – Ge-
schichte eines Goldsuchers“ erschien 1932. Ludwig, der jüdi-
scher Abstammung war, setzte sich wegen seiner kritischen
Charakteranalyse Schliemanns den Angriffen der National-
sozialisten aus. 1933 wurden seine Bücher verbrannt, seine
Schliemannbiographie fand so keine Verbreitung und wurde
kaum gelesen.
Im selben Jahr 1932 arbeitete Studienrat Dr. Ernst Meyer
(1888-1968), seit 1919 Lehrer am Gymnasium „Carolinum“ in
Neustrelitz, das auch Heinrich Schliemann einst besucht hatte,
an einemManuskript für einen Auswahlband mit Schliemann-
Briefen. Er erschien 1936, es war die erste Edition von Schlie-
mannbriefen.
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Im Vorwort drückte Meyer aus, worauf es ihm
bei der Auswahl der Briefe angekommen war: „Es galt, sich
ganz in den Dienst eines ebenso bedeutenden wie eigenarti-
gen Mannes zu stellen
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… Auch mußte die Gefahr vermieden
werden, … ihn seiner Größe zu entkleiden“
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. Ludwig sprach
er „das Organ für das Deutsche in Schliemann“
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ab und be-
zeichnete ihn als einen „artfremden Schriftsteller“
9
. So kann
2
Darüber berichtet Emil Ludwig im Vorwort seiner Romanbiographie
„Schliemann. Geschichte eines Goldsuchers“ Berlin/Wien/Leipzig 1932
auf der Seite 23f.
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Ebd., 27.
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Heinrich Schliemann’s Selbstbiographie. Bis zu seinem Tode vervollstän-
digt. Herausgegeben von Sophie Schliemann. Leipzig 1892. (Unverän-
derter Nachdruck mit einer Nachbetrachtung von Wilfried Bölke, HSM
Ankershagen 1996).
5
E. Meyer (Hrsg.), Briefe von Heinrich Schliemann. Berlin/Leipzig 1936.
6
Ebd., 21.
7
Ebd., 22f.
8
Ebd., 25.
9
E. Meyer, Die Arbeit am Schliemann-Nachlaß. In: Landeszeitung für
Mecklenburg vom 31.5.1937, Beilage.
Gennadius Library in Athen (Foto W. Bölke)