Seite 40 Informationsblatt 24 Dezember 2012
mann ist nicht unumstritten. Das Spektrum an Meinungen geht
weit auseinander. Deshalb wollte ich mir ein eigenes Bild von
seiner Persönlichkeit machen. Mit einem Inhaltskonzept im
Koffer machte ich mich am 26. August 2012 auf in Richtung
Heinrich Schliemanns Heimat Mecklenburg-Vorpommern.
Mein Ziel war das Heinrich-Schliemann- Museum Ankersha-
gen, dem Zentrum der Schliemannforschung.
Dort konnte ich meine Facharbeit mit Hilfe verschiedener Ori-
ginalquellen überarbeiten und erweitern, wobei mir Herr Dr.
Witte Zugang zu Originalquellen ermöglichte. Es war ein tol-
les Gefühl, Originaldokumente in Händen zu halten, die meine
Aussagen belegen. Auf diese Weise konnte ich mir systema-
tisch eine Meinung bilden und lernte, Anschuldigungen, Tat-
sachen und Verklärungen zu bewerten. Ich tauchte in das sehr
weit gefächerte Gebiet der Heinrich-Schliemann-Forschung
ein, in dem es fast unmöglich ist, aufzuhören, wenn man ein-
mal richtig angefangen hat. Besonders konzentriert habe ich
mich auf die homerischen Inszenierungen Schliemanns. Meine
Arbeit geht zunächst auf die Selbstbiographie ein und setzt
sich dann genauer mit den auf Homer bezogenen Inszenierun-
gen in den Grabungsberichten und den Inszenierungen rund
um den Schatzfund A („Schatz des Priamos“) auseinander.
Anschließend wird seine Selbstdarstellung visuell anhand des
Grabkreuzes und seines Mausoleums aufgezeigt.
Langsam wurde ich förmlich von Schliemann in den Bann ge-
zogen; am Ende fiel es mir richtig schwer, den Rahmen meiner
Arbeit nicht zu sprengen.
So ergab sich für mich ein Bild, dass die Beurteilung der
Schliemannschen Grabungsberichte und seiner Selbstbiogra-
phie nicht nur auf Grundlage historischer Fakten geschehen
kann, sondern auch die Psychologie dieses Mannes nicht ver-
gessen werden darf.
Schliemann stellt in seiner Autobiographie die Welt Homers als
emotionales Zentrum seines geistigen Lebens und den späteren
Nachweis seiner realen Existenz als Höhepunkt seines erfolg-
reichen Lebenswerks dar.
Die altgriechische Welt, insbesondere Homer und das home-
rische Troia, faszinieren Schliemann so sehr, dass er ihnen
nicht nur sein Leben widmet, sondern auch die Realität der Er-
zählungen Homers für ihn offensichtlich axiomatisch ist. Bei
seinen Grabungen passten für ihn die Erzählungen Homers zu
seinen Funden. So identifiziert er z. B. das Skäische Tor, und
die örtliche Lage seiner Funde stimmt mit Details aus Homers
Erzählungen von Troia überein. Zweifel hieran sind ihm derart
absurd, dass er wissenschaftlich ernst zu nehmende Gegenar-
gumente einfach ausblendet und übergeht.
Seine Faszination für Homer bewirkt eine fanatische Überzeu-
gung, die er schließlich durch geschickte Inszenierung in die
Wirklichkeit zu projizieren sucht. Angefangen von dem großen
Schatzfund A (wie er in der Fachsprache neutral genannt wird)
und seine unbeirrbare Behauptung, es handele sich um den
„Schatz des Priamos“, bis hin zur Taufe Hisarlıks als „das ho-
merische Troia“, die ebenso keinen Zweifel mehr duldet, zei-
gen deutlich Schliemanns programmatische Handlungsweise.
Seine Inszenierungskraft beschränkt sich aber nicht nur auf
den wissenschaftlichen Teil seines Lebens, sondern färbt auch
deutlich seine Autobiographie und findet sich zudem in seinem
realen Leben. So nennt er seine beiden griechischen Kinder
Andromache und Agamemnon, aber auch seine Bediensteten
erhalten homerische Namen. Seinen Gärtner nennt Schliemann
beispielsweise „Priamos“. Bei der homerischen Namensge-
bung beschränkt er sich aber nicht nur auf Personen, sondern
auch sein Wohnhaus in Athen erhält den Namen „Iliou Mela-
thron“, was übersetzt ungefähr so viel wie „Haus von Troia“
oder „Wohnung von Troia“ heißt. Sogar auf seinem Grabmal
ist Homers Ilias in Reliefs vertreten.
Es wäre also nachvollziehbar, dass er aus voller Überzeugung
und fanatischer Begeisterung psychologisch gesehen seiner
subjektiven homerischen Inszenierung erlag und deshalb die
Welt von falschen Schlussfolgerungen überzeugen wollte. Dies
sollte aber nicht seine herausragende faktische Lebensleistung
überdecken, die er nicht nur in persönlicher Hinsicht erbrachte,
sondern auch in seinem Dienst für die Altertumswissenschaft.
Vor meinem Aufenthalt hätte ich nicht in dem Maße erwartet,
dass die Arbeit rund um Schliemann und seine Ausgrabungen
so spannend sein und eine solch fesselnde Wirkung haben
kann. Deshalb möchte ich Herrn Dr. Witte einen ganz großen
Dank nicht nur für vier hochinteressante Tage in Ankershagen
aussprechen, sondern vor allem dafür, dass er mir Schritt für
Schritt seine „Schliemann-Forschungswelt“ zeigte und ich
Heinrich Schliemanns Persönlichkeit Etappe für Etappe ein
Stück weit besser kennen und verstehen lernen konnte.
Lena Kohlrausch,
Trostberg
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