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Seite 30 Informationsblatt 23 Dezember 2011

30. Geburtstag des HSM

wahren und zu pflegen. Erst damals begann auch die museale

Sammeltätigkeit, denn das Pfarrhaus musste mit Objekten, mit

Erinnerungsstücken, Schriftzeugnissen und Kunstwerken ge-

füllt werden. Heute dürfen wir mit Bewunderung auf das neu

Geschaffene, auf einen Gedächtnisort, auf ein museales Areal

von überzeugender Authentizität blicken. Der genius loci,

der Schutzgeist des Ortes, seine Geistigkeit, wurde zu neuem

Leben erweckt.

Eine zweite Besonderheit bedarf der Erwähnung. Wer ei-

gentlich war Schliemann, betrachtet man ihn als politisches

Wesen? Von Geburt her war er Mecklenburger und somit

Deutscher. Aber war er jemals deutscher Staatsbürger? Als er

den Gedanken fasste, auf dem Hissarlik nach Troia zu graben,

existierte ein Deutsches Reich noch nicht. Und kaum war der

Deutsch-Französische Krieg 1870/71 entfesselt, nahm er eine

strikt profranzösische Position ein. 1869 wurde er aus poli-

tischem Kalkül amerikanischer Staatsbürger. Zuvor – 1868 -

hatte er seine russische Staatsbürgerschaft annullieren lassen.

Zwanzig Jahre war er politisch ein „Russe“. Wer war der „poli-

tische Schliemann“? Am wenigstens ein Deutscher, kaum ein

Amerikaner, auch kein Grieche, eher schon ein „Russe“, denn

sein Verhältnis zu diesem Land blieb zeitlebens positiv. Es

hat wenig Sinn, hier eine Entscheidung zu fällen. Schliemann

war, und das darf zu Recht behauptet werden, in erster Linie

ein Europäer, der in europäischen Maßstäben dachte und dem

Nationalismus, religiöse Intoleranz oder gar Rassismus fremd

waren. Ihn als Weltbürger, als Kosmopoliten zu bezeichnen,

dürfte der Wahrheit am nächsten kommen.

Damit sind wir bei einer weiteren Eigentümlichkeit, die ganz

den Ort betrifft, an dem wir uns heute befinden. Für denjenigen,

der sich mit Schliemann beschäftigt, ob als Wissenschaftler

oder Laienforscher, gibt es zwei Ausgangspunkte und einen

Endpunkt. Die beiden Ausgangspunkte sind Neubukow und

Ankershagen, der eine Endpunkt ist wiederum Ankershagen,

und er ist fixiert im Heinrich-Schliemann-Museum. Es hätte

noch einen zweiten Endpunkt geben können: das „Iliou

Melathron“ in Athen, die prächtige Stadtvilla Schliemanns. Sie

wäre der geeignete Platz für ein Memorialmuseum und zugleich

eine europäische Begegnungsstätte gewesen. Die Villa wurde

zweckentfremdet, und heute werden in ihren Räumen Münzen

ausgestellt. In St. Petersburg, wo Schliemann mit seiner rus-

sischen Familie fast zwei Jahrzehnte verbrachte, gibt es nur

eine Gedenktafel am vermeintlichen Wohnhaus. Folglich gibt

es rund um den Erdball, außer Ankershagen, keinen weiteren

authentischen Ort, an dem an den Troia-Ausgräber Schliemann

mit einem Museum erinnert werden kann.

Andererseits ist Schliemann eine historische Persönlichkeit

von internationalem Rang und Interesse. Mit ihm beschäftigen

sich Forscher an den Universitäten in Ottawa, Athen, Cam-

bridge, Havanna, Rostock oder, bedingt nur, Tübingen, auch in

einigen Universitäten der USAwird zu Schliemann und seinem

wissenschaftlichen Erbe geforscht. Keine dieser Universitäten

ist ein Zentrum, geschweige denn ein federführendes Zentrum

der internationalen Schliemann-Forschung. Neben den an

Universitäten angebundenen Forschern gibt es nicht wenige,

die ohne institutionelle Bindung arbeiten. So ergab es sich fast

von selbst, dass mit der Einrichtung des Heinrich-Schliemann-

Museums endlich der Ort gefunden war, an dem die Fäden der

regionalen, nationalen wie weltweiten Schliemann-Forschung

zusammenliefen. Nach den ersten vom Museum und der

Heinrich-Schliemann-Gesellschaft veranstalteten internation-

alen Kolloquien verfestigte sich die Rolle, ein zentraler Ort der

internationalen Schliemann-Forschung zu sein. In eben diesem

Sinne wurde das Museum auch vom Heinrich-Schliemann-

Archiv in Athen, das von der dortigen American School of

Archaeology verwaltet wird, durch ein mehr als großzügiges

Geschenk anerkannt [gemeint sind die Briefe an Schliemann

„Series B: Correspondence, die das Archiv in Mikrofilmen er-

hielt und von uns auf CD-ROMs gespeichert und als Faksimile

ausgedruckt wurden – Anm. d. Red.]. Es umfasste 35.274

Autographen in Kopien, so dass das Museum heute ein ei-

genes, beachtliches und durch weitere private Donationen er-

weitertes Archiv besitzt und es quasi zu einer Dependance der

Athener Einrichtung geworden ist. Damit war eine völlig neue

Grundlage für die nationale Schliemann-Forschung geschaffen

worden. Erste Studenten haben davon schon Gebrauch gemacht.

Übrigens spart es Geld, wenn nicht wegen jedes Briefes an und

von Schliemann nach Athen gereist werden muss.

Inzwischen haben neun internationale wissenschaftliche

Kolloquien stattgefunden, die letzten beiden schon unter der

Ägide des neuen Museumsleiters Reinhard Witte. Die wis-

senschaftlichen Ergebnisse der ersten sieben Kolloquien sind

alle in den „Mitteilungen aus dem Heinrich-Schliemann-

Museum“ veröffentlich worden. Dass einige der Kolloquien

in Zusammenarbeit mit der Europäischen Akademie in

Mecklenburg-Vorpommern verwirklicht wurden, soll an die-

ser Stelle extra hervorgehoben werden. Damit sind Fakten

genannt, die nicht klein geredet, nicht vom Tisch gewischt, also

keinesfalls negiert werden können. Die enorme Leistung, die

sich dahinter verbirgt, will ich nicht einmal andeuten.

Wer aber nun beabsichtigt oder wünscht, das Heinrich-

Schliemann-Museum auf administrativem Wege „kreativ

zu zerstören“, es in seiner Rolle herabzusetzen, der verg-

reift sich nicht nur an einem nationalen wie internationalen

Erinnerungsort, sondern auch am kulturellen Gedächtnis un-

seres Volkes, denn „Zukunft braucht Herkunft“.

9

Dass die

Bewahrung und Pflege unseres kulturellen Gedächtnisses

Geld kostet, ist eine unumstrittene Wahrheit. Deshalb sollte

die Politik, sollten die verantwortlichen Politiker, nicht lan-

dauf landab die Schließung von Theatern, die Auflösung von

Orchestern oder die Bereinigung der Museumslandschaft ver-

fügen, sondern um mehr Mittel für den Erhalt des kulturellen

Erbes unseres Volkes kämpfen. Geld ist genug da. Es ist nur

einzufordern zum Zwecke des Gemeinwohls und nicht sinn-

los zu verpulvern und in den Sand zu setzen wie in dem von

Anbeginn verlorenen Krieg in Afghanistan, den die Mehrheit

unseres Volkes, also der Souverän laut Grundgesetz, ablehnt

und nicht will. Wenn dieses verschleuderte Geld sinnreich

eingesetzt worden wäre, hätten wir in ganz Deutschland blüh-

ende kulturelle Landschaften.

9

Aleida Assmann in: Leuchtfeuer. Kulturelle Gedächtnisorte.

Brandenburg/Mecklenburg-Vorpommern/ Sachsen/Sachsen Anhalt/

Thüringen, Leipzig 2009, S. 10f.