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1. Michail Semjonovi
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Kutorga (1809 – 1886)
Michael Kutorga war unter den ersten Hörern, die seit 1828 das in Dorpat/Derpt
eingerichtete Institut zur Vorbereitung künftiger Professoren besuchten. Er hatte
sich für die Geschichte des Altertums, insbesondere des griechischen Altertums,
entschieden, erhielt in Dorpat/Derpt ein
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hervorragende philologische Ausbildung
und verließ Ende 1832 das Institut als Magister. Anfang 1833 reiste er nach Berlin,
wo er an der Friedrich-Wilhelm-Universität seine Studien u. a. bei August Boeckh
(1785 – 1867) und Leopold Ranke (1795 – 1886) fortsetzte. 1835 kehrte er nach
Russland zurück und erhielt wenig später eine Professur an der Universität in St.
Petersburg. 1848 wurde er korrespondierendes Mitglied der St. Petersburger Aka-
demie der Wissenschaften. Kutorga, der ausgezeichnet Deutsch sprach, fügte sich
mit seinem historischen Wissen, das nicht nur auf das Klassische Altertum einge-
grenzt war,
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offenbar ganz gut in den Kreis jener Intellektuellen, die periodisch im
Hause Schliemann zu Gast waren. Anzunehmen ist, dass die gesellige Kommuni-
kation mit Kutorga möglicherweise bis zum Ende von Schliemanns Russlandjah-
ren 1866 fortdauerte. Genaueres wissen wir nicht. 1869 verlegte Kutorga seinen
Lebensmittelpunkt nach Moskau. Dort lehrte er bis 1874 an der Moskauer Uni-
versität. Anschließend zog er sich aufs Land, auf sein Gut Borok bei Mogiljov,
zurück, wo er sich, gestützt auf seine große Bibliothek, weiter mit altgriechischer
Geschichte befasste.
Michael Kutorga war der erste herausragende und dabei völlig eigenständige rus-
sische Forscher auf dem Gebiet der alten Geschichte Griechenlands. Sein Ruf
reichte weit über die Grenzen Russlands hinaus, denn ein Großteil seiner Arbeiten
wurde in deutscher oder französischer Übersetzung in westeuropäischen Fach-
journalen abgedruckt.
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Mit Kutorga reihte sich die russische Altertumskunde gleichberechtigt und auf
hohem intellektuellem Niveau in die europäischen Altertumswissenschaften ein.
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1860/1861 bereiste Kutorga Griechenland, was unter russischen Gelehrten selten
war. Den namentlich bei deutschen Altphilologen anzutreffenden Skeptizismus im
Hinblick auf die historische Überlieferung der Griechen hielt er für übertrieben
und lehnte ihn ab. „Wir denken“, schrieb er 1872 in seiner Arbeit „O dostovernosti
drevnejšej gre
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eskoj istorii“ (= Über die Glaubwürdigkeit der ältesten griechi-
schen Geschichte), „dass die Geschichte der ältesten Periode Griechenlands nicht
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Er hatte an der St. Petersburger Universität den Lehrstuhl für Allgemeine Geschichte inne, hielt
Vorlesungen auch zur Geschichte des Mittelalters und zur Allgemeinen Geschichte insgesamt.
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V. P. Buzeskul, Vvedenie v istoriju Grecii (= Einführung in die Geschichte Griechenlands), St.
Peterburg 1915, S. 303f. (Lekcii po istorii Grecii /= Lektionen zur Geschichte Griechenlands/ Bd.
1); E. D. Frolov, a.a.O., S. 119f., 129f.
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E. D. Frolov, a.a.O., S. 139.