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Archäologie in Russland zu Schliemanns Petersburger Zeit
Armin Jähne
Über Heinrich Schliemanns geschäftliche Erfolge in Russland wissen wir recht
gut Bescheid. Wir sind auch ausreichend über das Leben seiner russischen Fami-
lie informiert, wenngleich Lücken bleiben, so über die schwierigen Beziehungen
zwischen ihm und Jekaterina Lyshina, seiner Frau, über sein durchaus positives
Verhältnis zu Russland, was Kritik an ihm nicht ausschloss, und sein russisch-
staatsbürgerliches Bewusstsein. Es gibt keinen Zweifel an seinen Latein-, Grie-
chisch- und Altgriechisch-Studien und an seiner, von Jekaterina oft und gern be-
spöttelten Homerophilie.
Nicht ganz klar ist, was der Zweck der Schliemannschen Homerbegeisterung war.
Sie bereits als eine Fixierung auf die künftigen Grabungen auf dem Hisarlık zu
werten, erscheint mir sehr gewagt und wird wohl auch niemand mehr behaupten.
Heinrich Schliemann wusste um sein Bildungsmanko und litt darunter. Es zu kom-
pensieren, ja zu kaschieren, dazu boten sich die Kenntnis des Lateinischen und
Griechischen und der Dichtungen Homers in vortrefflicher Weise an, waren sie
doch europaweit fester Bestandteil klassisch-gymnasialer Bildung. Als Beson-
derheit kam hinzu, dass auch in Russland nach der kongenialen Übersetzung der
„Ilias“ durch Nikolai Gnedi
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(1784 – 1833), die 1829 in St. Petersburg gedruckt
erschien, Homer und seine Helden breiteren Kreisen zugänglich geworden waren.
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Vielleicht galt manchem russischen Zeitgenossen Schliemanns Homerbesessen-
heit als Spleen, dennoch war damit die Grundlage für eine Kommunikation unter
Gebildeten gegeben – auf nicht allzu hohem Niveau.
Schliemann und seine Frau führten in St. Petersburg ein offenes Haus. Alle Sonn-
tage traf sich dort ein Zirkel von Freunden, die sich in Übereinstimmung der Gei-
ster über Kunst, Wissenschaft und Literatur austauschten. Ihm gehörten u.a. an:
Friedrich Lorentz (1803 – 1861), der seit 1831 Geschichte am Kaiserlichen Päd-
agogischen Hauptinstitut in St. Petersburg lehrte und 1857 nach Bonn ging, als
fernerer Bekannter der Althistoriker Michail S. Kutorga (1809 – 1889), tätig an
der St. Petersburger Universität 1835 – 1869, der Altphilologe Karl J. Ljugebil
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Gnedi
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versuchte sich auch an der Übersetzung der „Odyssee“, wurde damit aber nicht fertig. Es
war der Poet Vasilij
Ž
ukovskij (1783 – 1852), der die „Odyssee“ ins Russische übertrug – mit we-
niger durchschlagendem Erfolg. E. D. Frolov, Russkaja istoriografija anti
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nosti do serediny 19 v. (=
Die russische Geschichtsschreibung über das Altertum bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts), Lenin-
grad 1967, S. 98f., (O
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erki po anti
č
noj istorii, Lieferung 1 /= Abrisse zur antiken Historiographie/).