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die Mittelmeerländer (vor allem nach Griechenland, dem „Vaterland meines Lieb-
lings Homer“) begeben. „Sollte ich dann auf meiner Reise nach dem Auslande
irgendwo ein Landgut oder eine Gegend finden, wo ich mich glücklicher finde als
hier, so kaufe ich mich wohl an und lasse meine Frau dann nachkommen.“
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Bei
einem Geschäftsmann fragt er zur gleichen Zeit an, ob es ratsam wäre, Länderei-
en in der Türkei, Griechenland, Kleinasien und Ägypten zu kaufen oder besser
Kaffee-, Zucker- und Baumwollplantagen in Brasilien.
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Schließlich verschiebt Schliemann seine geplante Reise um zwei Jahre. Er nutzt
die Zeit, um Fremdsprachen zu erlernen und sich mit der Literatur der Klassiker
zu beschäftigen, die er in der Originalfassung liest und übersetzt. Er findet Gefal-
len daran und möchte „den Rest meines Lebens den Wissenschaften widmen, die
ich sehr liebe.“
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Schliemann, der zu dieser Zeit durch eine zerrüttete Ehe in eine
Lebenskrise geraten ist, von der seine Briefpartner aber nichts wissen, bringt sei-
ne damalige Lebenssituation in einem Brief an seine Tante Magdalena in Kalk-
horst am 31. 12. 1856 wie folgt zum Ausdruck: „Wissenschaften und besonders
Sprachstudium sind bei mir zur wilden Leidenschaft geworden, und jeden freien
Augenblick darauf verwendend ist es mir gelungen, in den zwei letzten Jahren
noch die polnische, slavonische, schwedische, dänische sowie im Anfang d. J. die
neugriechische und später die altgriechische und lateinische Sprache fertig zu er-
lernen, so daß ich jetzt 15 Sprachen geläufig spreche u. schreibe.“ Er möchte sich
„in eine Universitätsstadt wie z. B. Bonn zurückziehen, mich dort mit Gelehrten
... umgeben ...“
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Und doch kommen ihm Zweifel, ob er die erforderlichen Voraussetzungen für
eine wissenschaftliche Laufbahn besitzt. Er vergleicht sich mit einem seiner
Freunde in St. Petersburg, Prof. Lorentz, Präsident des kaiserlichen Pädagogi-
schen Institutes. Schliemann beneidet ihn, weil der in der Lage ist, eine lateini-
sche Rede zu formulieren und zu halten. „Ich weiß sie auswendig, aber das nützt
alles zu nichts, denn es ist nur Alles bei mir auswendig lernen, wozu mir das
Gedächtnis hilft, aber aus mir selbst eine solche Rede zu schreiben oder auch nur
im Stande zu sein, das Allergeringste zu verfassen, das kann ich nicht und kom-
me leider auch nie dahin, weil mir die Grundlage ganz und gar fehlt. Hätte mich
nicht vor 24 Jahren mein unglückliches Schicksal Eurer Fürsorge entzogen, wäre
ich ... ans Gymnasium in Wismar und später auf die Universität gekommen, dann
würde ich jene Grundlage haben, und ev. würde vielleicht etwas Tüchtiges aus
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Schliemann, Brief vom 17. 3. 1856, in: Meyer BW I, S. 80f.
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Schliemann, Brief an Fr. Bromme vom 3. 4. 1856, in: Meyer BW I, S. 82.
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Schliemann, Brief an Rhodanakis vom 11. 6. 1856, in: Meyer BW I, S. 83.
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Schliemann, Brief vom 31. 12. 1856, in: Meyer BW I, S. 86 f.