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Informationsblatt 32 Dezember 2020
bereits schon sterbenskranker Bruder. In der Schliemannfor-
schung spricht man seit den Forschungen des amerikanischen
Psychiaters William G. Niederland in den 1960er Jahren vom
„wiedergeborenen Heinrich“.
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Niederland war der Meinung und andere folgten ihm, dass der
selbe Rufname des toten Bruders dem „neuen“ Heinrich einen
schicksalhaften Identitätskonflikt bescherte, der zu hypomani-
schen Reaktionen beim späteren Kaufmann und Forscher führ-
te. Beweis dafür wären Schliemanns Arbeitswut (heute wür-
den wir von einem Workaholic sprechen), sein Streben nach
Erlernung einer Fremdsprache nach der anderen (denn eine
neue Sprache ist ein neues Leben, 20 waren es am Lebensen-
de) und natürlich auch seine Reisewut. All das sei Bestätigung
dafür, dass er lebt und nicht wie der tote Bruder, der Erst-Hein-
rich, in einem Grab in Neubukow liegt. Damit er mit diesem
Ort überhaupt nicht in Verbindung gebracht werden kann, soll
Heinrich Schliemann unbewusst mitunter seinen Geburtsort
mit Ankershagen angegeben haben, obwohl er in Neubukow
das Licht der Welt erblickte.
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2. Das Verhältnis zu Vater und Mutter
Der Vater Ludwig van Beethovens, der Hoftenorist Johann
van Beethoven (um 1740 – 18. 12. 1792), heiratete am 12. No-
vember 1767 die Witwe eines Kurtrierischen Kammerdieners,
Maria Magdalena Keverich, verw. Leym (19. 12. 1746 – 17. 07.
1787). Das Ehepaar hatte sieben Kinder, vier starben bereits im
Säuglingsalter. So verblieben Ludwig nur die Brüder Caspar
Carl (1774 – 1815) und Nikolaus Johann (1776 – 1848).
Aus den lange nach des Komponisten Tod aufgezeichneten
Erinnerungen des Bäckermeisters Gottfried Fischer und sei-
ner Schwester Cäcilia, in deren Haus in der Rheingasse
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die
Beethovens eine repräsentative Wohnung besaßen, erfahren
wir Vieles aus der Familiengeschichte. Die Mutter war von
ernster Natur, während der Vater ein Rheinländer war, wie er
im Buche steht: trinkfreudig, gesellig und temperamentvoll.
Zu den Nachbarn pflegte man freundschaftliche Kontakte. Der
Namenstag der Mutter wurde besonders fröhlich gefeiert. Der
kleine Ludwig wurde von seinem Vater früh an die Musik her-
angeführt. Da er hoffte, aus ihm auch ein Wunderkind zu ma-
chen, kam es vor, dass er nach einer Zechtour den Vierjährigen
aus dem Bett holte und ans Klavier stellte, zum Sitzen war der
Junge noch zu klein. Johann van Beethoven merkte bald, dass
2 Um den Beitrag dem Publikationsorgan gemäß nicht zu lang
werden zu lassen, sollen in den Anmerkungen nur die nötigsten
Referenzen erfolgen. Also hier nur ein Hinweis! William G. Nie-
derland: Analytische Studie über das Leben und Werk Heinrich
Schliemanns, in: Psyche. Zeitschrift für psychologische und medi-
zinische Menschenkunde 18 (Heft 10), Stuttgart 1965, S. 563-590.
3 Sowohl im Rostocker Reisepass von 1841 als auch im russischen
Reisepass von 1846 steht: gebürtig aus Ankershagen. Das wieder-
holt sich in seinem ersten Amerikatagebuch und an anderen Stel-
len.
4 Das Haus steht nicht mehr, jedoch das Geburtshaus in der Bonn-
gasse. Zu den Erinnerungen vgl. Margot Wetzstein (Hg.): Familie
Beethoven im kurfürstlichen Bonn (Neuauflage nach den Auf-
zeichnungen des Bonner Bäckermeisters Gottfried Fischer), Bonn
2006.
er allein nicht mehr in der Lage war, den begabten Sohn zu
unterrichten. So sorgte er für Musiklehrer, die die hoffnungs-
vollen Anlagen seines Filiusses weiterentwickelten. Obwohl
Maria Magdalena kaum lachte oder Zärtlichkeiten mit ihren
Kindern austauschte, schrieb der 17-jährige nach ihrem frühen
Tod (mit knapp 41 Jahren) in einem Brief: Meine Mutter „hatte
die schwindsucht und starb endlich ungefähr vor sieben wo-
chen, nach vielen überstandenen schmerzen und leiden. sie war
mir eine so gute liebenswürdige mutter, meine beste freundin;
o! wer war glüklicher als ich, da ich noch den süßen namen
mutter aussprechen konnte, und er wurde gehört, und wem
kann ich ihn jezt sagen? den stummen ihr ähnlichen bildern,
die mir meine einbildungskraft zusammensezt?“
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Nach dem Tod seiner Frau ließ sich der Vater gehen. Er wurde
zum schweren Alkoholiker. Ludwig, der bereits als Organist,
Klavierlehrer und Orchestermusiker eigenes Geld verdiente,
bekam nun auch noch das Gehalt seines Erzeugers, um die
Familie zu ernähren. Im November 1792 ging er nach Wien.
Reichlich einen Monat später starb sein Vater. Eine Reaktion
des aufstrebenden Pianisten und Komponisten darauf ist nicht
bekannt. Nur das Grab der Mutter ist auf dem Alten Friedhof
in Bonn erhalten (Abb. 3).
5 Sieghard Brandenburg (Hg.): Ludwig van Beethoven Briefwech-
sel Gesamtausgabe in 7 Bänden, hg. im Auftrag des Beethoven-
Hauses Bonn. München 1996-1998. Hier: Band I, Brief Nr. 3. Alle
weiteren zitierten Briefstellen Beethovens stammen aus dieser Ge-
samtausgabe.
Beiträge und Berichte
Abb. 3 – Grab der Mutter Beethovens auf dem Alten Friedhof in Bonn