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Informationsblatt 28 März 2017
Beiträge und Berichte
Mit dem „Richard-Wagner-Verband“
auf Schliemanns Spuren im alten Ostpreußen
Der „Richard-Wagner-Verband“ Leipzig reiste am 15. Septem-
ber 2016 bereits zum 6. Mal nach Königsberg. Für sechs Tage
waren Mitglieder dieses Verbandes auf den Spuren Richard
Wagners und seiner ersten Frau, der Schauspielerin Minna Wag-
ner, geb. Planer, in der geschichtsträchtigen Region Ostpreußen.
Was bewegt nun eine bekennende „Schliemännin“ wie mich,
gemeinsam mit Heidemarie Schloms, sich dem Richard-Wag-
ner-Verband anzuschließen und mit Wagnerianern nach Kö-
nigsberg zu reisen? Auf den ersten Blick liegen Welten zwi-
schen den beiden Zeitgenossen:
Heinrich Schliemann (1822-1890) und Richard Wagner (1813-
1883) sind sich wohl nie persönlich begegnet. Der eine mit ei-
ner an Geiz grenzenden Sparsamkeit ausgestattet, der andere
immer über seine Verhältnisse und mit nie endenden Schulden
lebend, beide verband ihr Hang zur Selbstinszenierung und ihr
Ehrgeiz.
In Ostpreußen erlebte Heinrich Schliemann im Oktober 1854
dramatische Stunden und Tage: Bei dem großen Stadtbrand am
4. Oktober 1854 in Memel brannten alle Lagerhäuser des Ha-
fens nieder, in denen auch die von Schliemann aus Amsterdam
expedierten Waren eingelagert sein sollten. In seiner Selbstbio-
grafie, die er seinem Buch „Ilios, Stadt und Land der Trojaner“
voranstellte, beschrieb er sehr dramatisch, was sich in jenen Ta-
gen in Königsberg, Tilsit und Memel abspielte:
„Die göttliche Vorsehung beschützte mich oft in der wunderbar-
sten Weise, und mehr als einmal wurde ich nur durch einen Zu-
fall vom gewissen Untergange gerettet. Mein ganzes Leben lang
wird mir der Morgen des 4. October 1854 in der Erinnerung
bleiben. Es war in der Zeit des Krimkrieges. Da die russischen
Häfen blockirt waren, mussten alle für Petersburg bestimmten
Waaren nach den preussischen Häfen von Königsberg und Me-
mel verschifft und von dort zu Lande weiter befördert werden.
So waren denn auch mehrere hundert Kisten Indigo und eine
grosse Partie anderer Waaren von den Herren J. Henry Schrö-
der & Co. in London und B. H. Schröder & Co. für meine Rech-
nung auf zwei Dampfern an meine Agenten, die Herren Meyer
& Co. in Memel abgesandt worden, um von dort zu Lande nach
Petersburg transportirt zu werden. Ich hatte den Indigoauctio-
nen in Amsterdam beigewohnt und befand mich nun auf dem
Wege nach Memel, um dort nach der Expedition meiner Waaren
zu sehen. Spät am Abend des 3. October im Hôtel de Prusse in
Königsberg angekommen, sah ich am folgenden Morgen, bei
einem zufälligen Blick aus dem Fenster meines Schlafzimmer,
auf demThurme des nahen „Grünen Thores"
1
folgende ominöse
Inschrift in grossen vergoldeten Lettern mir entgegenleuchten:
Vultus fortunae variatur imagine lunae:
Crescit, decrescit, constans persistere nescit.
2
1 Anm. von Schliemann: „Dieses Tor ist inzwischen, im August 1864, infolge
städtischer Veränderungen abgebrochen worden.“
2 Anm. der Redaktion: Das Glück ist wechselhaft wie der Mond, es nimmt zu,
es nimmt ab, beständig ist es nie.
Ich war nicht abergläubisch, aber doch machte diese Inschrift ei-
nen tiefen Eindruck auf mich, und eine zitternde Furcht, wie vor
einem nahen unbekannten Misgeschick bemächtigte sich meiner.
Als ich meine Reise mit der Post fortsetzte, vernahm ich auf der
ersten Station hinter Tilsit zu meinem Entsetzen, dass die Stadt
Memel am vorhergegangenen Tage von einer furchtbaren Feu-
ersbrunst eingeäschert worden sei, und vor der Stadt angekom-
men, sah ich die Nachricht in der traurigstenWeise bestätigt. Wie
ein ungeheurer Kirchhof, auf dem die rauchgeschwärzten Mau-
ern und Schornsteine wie grosse Grabsteine, wie finstere Wahr-
zeichen der Vergänglichkeit alles Irdischen sich erhoben, lag die
Stadt vor unsern Blicken. Halbverzweifelt suchte ich zwischen
den rauchenden Trümmerhaufen nach Herrn Meyer. Endlich ge-
lang es mir, ihn aufzufinden — aber auf meine Frage, ob meine
Güter gerettet wären, wies er statt aller Antwort auf seine noch
glimmenden Speicher und sagte: ‚Dort liegen sie begraben.‘ Der
Schlag war sehr hart: durch die angestrengte Arbeit von acht und
einem halben Jahre hatte ich mir in Petersburg ein Vermögen von
150000 Thalern erworben — und nun sollte dies ganz verloren
sein. Es währte indessen nicht lange, so hatte ich mich auch mit
diesem Gedanken vertraut gemacht, und gerade die Gewissheit
meines Ruins gab mir meine Geistesgegenwart wieder.
Das Bewusstsein, niemandem etwas schuldig zu sein, war mir
eine grosse Beruhigung; der Krimkrieg hatte nämlich erst vor
kurzem begonnen, die Handelsverhältnisse waren noch sehr un-
sicher, und ich hatte infolge dessen nur gegen baar gekauft. Ich
durfte wol erwarten, dass die Herren Schröder in London und
Amsterdam mir Credit gewähren würden, und so hatte ich die be-
ste Zuversicht, dass es mir mit der Zeit gelingen werde, das Ver-
lorene wieder zu ersetzen. Es war noch am Abend des nämlichen
Tages: ich stand im Begriffe, meine Weiterreise nach Petersburg
mit der Post anzutreten, und erzählte eben den übrigen Passa-
gieren von meinem Missgeschick, da fragte plötzlich einer der
Umstehenden nach meinem Namen, und. rief, als er denselben
vernommen hatte, aus: ‚Schliemann ist ja der Einzige, der nichts
verloren hat! Ich bin der erste Commis bei Meyer & Co. Unser
Speicher war schon übervoll, als die Dampfer mit Schliemann's
Waaren anlangten. und so mussten wir dicht daneben noch ei-
nen hölzernen Schuppen bauen, in dem sein ganzes Eigenthum
unversehrt geblieben ist.‘ Der plötzliche Uebergang von schwe-
rem Kummer zu grosser Freude ist nicht leicht ohne Thränen zu
ertragen: ich stand einige Minuten sprachlos; schien es mir doch
wie ein Traum, wie ganz unglaublich, dass ich allein aus dem
allgemeinen Ruin unbeschädigt hervorgegangen sein sollte! Und
doch war dem so; und das wunderbarste dabei, dass das Feuer
in dem massiven Speicher von Meyer & Co., auf der nördlichen
Seite der Stadt ausgekommen war, von wo es bei einem heftigen,
orkanartigen Nordwind sicb schnell über die ganze Stadt ver-
breitet hatte; dieser Sturm war denn auch die Rettung für den
hölzernen Schuppen gewesen, der, nur ein paar Schritt nördlich
von dem Speicher gelegen, ganz unversehrt geblieben war.
Meine glücklich verschont gebliebenen Waaren verkaufte ich
nun äusserst vorteilhaft, liess dann den Ertrag wieder und im-
mer wieder arbeiten, machte grosse Geschäfte in Indigo, Far-