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Lieferten die 1880er Jahre eine solide Grund-

lage und deutlich erweiterte Materialbasis für

die Erforschung der frühkykladischen Kultur,

so sollte diese in den 1890er Jahren endlich

ihre Würdigung als eigenständige Kultur

erfahren. 1891 noch publiziert Paul Wolters

(1858–1936) einen „abstoßend häßliche[n]

Kopf“

77

, der im Nationalmuseum Athen aus-

gestellt war (Abb. 15). Trotz dieses harschen

Eingangs gelang ihm im weiteren Verlauf sei-

nes Artikels eine ausgewogene Darstellung

einiger neu vorgelegter Kykladika, und auch

er betont wie vor ihm bereits Walz, dass De-

tails einst den Figuren aufgemalt waren.

In Léon-Maxime Collignons (1849–1917) 1892 auf Französisch erschienenen und

1897 ins Deutsche übersetzten „Geschichte der griechischen Plastik“ liest sich

eine ganz ähnliche negative Beurteilung des abstrakten frühkykladischen Stils.

In den Idolen sah er eine „naive Unbeholfenheit“, sie sind „unförmliche Bilder“,

„älter als mykenische“, „ungriechisch“, von „Barbarei beherrscht“ und zeigen den

„spontanen Charakter einer Kultur auf der Kindheitsstufe“.

78

Wolters und Collignon stehen mit ihren Urteilen in einer längeren Tradition, ge-

hören aber zu einer schwindenden Menge an Gelehrten, die prähistorische Ar-

tefakte an Meisterwerken klassischer und hellenistischer Kunst messen. Schon

fern von geschmäcklerischen Urteilen beschreibt Oscar Montelius (1843–1921)

in seinem Aufsatz „Die Bronzezeit im Orient und in Griechenland“ aus dem Jahr

1892 das Bekannte über die frühkykladische Kultur und sieht sie als früheste bron-

zezeitliche Kultur Griechenlands

79

. Sehr wichtig ist auch Christian Blinkenbergs

(1863–1948) Werk über die vormykenischen Kulturen Griechenlands, in der er da-

mals aktuelle Erkenntnisse treffend zusammenfasst und neue Erkenntnisse zusam-

menträgt

80

, sowie das beeindruckende Überblickswerk von Georges Perrot und

Charles Chipiez, in dem auch die frühkykladische Plastik eine Würdigung findet

81

.

Die Annährung an ein Verständnis abstrakter Kunst, wie es die frühkykladische

Plastik ist, geschah nun auch in übergreifenden, mehr kunstwissenschaftlichen

77

Wolters 1891, 47.

78

Collignon 1897, 19–22.

79

Montelius 1892, 22 f.

80

Blinkenberg 1897.

81

Perrot – Chipiez 1894, 735–762.

Abb. 15 – Paul Wolters’ „abstoßend

hässlicher Kopf“ ist eines der ein-

drucksvollsten frühkykladischen Objek-

te im Nationalmuseum Athen und gibt

auch heute noch eine Ahnung von der

Farbfassung frühkykladischer Plastik.