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für die präzisere Erforschung der Kyladenkultur geschaffen. Tsountas möchte die
auf den Inseln gefundenen Gräber auch nicht mehr als karisch bezeichnen und
bevorzugt den Begriff kykladisch
98
. Damit führt er konsequent die Gedanken Fer-
dinand Dümmlers fort, löst sich aber von den antiken Quellen und definiert eine
neue, eigenständige Kultur – die Kykladenkultur.
Parallel dazu lieferten die britischen Grabungen in Phylakopi auf Melos 1896–
1899 eine zweite wichtige Stütze für ein besseres Verständnis der kykladischen
Frühbronzezeit. Dank einer gut beobachteten Stratigraphie wird nun das zeitli-
che Verhältnis der Kykladenkultur zur mykenischen und minoischen klarer als
zuvor
99
. Kleinere, von den Teilnehmern der Phylakopi-Grabung durchgeführte
Teiluntersuchungen erbrachten weitere wichtige Details
100
. Um 1900, spätestens
mit dem bekannt werden der Grabungsergebnisse von Arthur Evans in Knossos ist
das Umdenken vollzogen, und man sieht die Kunst und Kultur des prähistorischen
Griechenlands mit anderen Augen.
Walter Müller widmet in seiner Dissertation „Nacktheit und Entblößung in der
altorientalischen und älteren griechischen Kunst“ von 1906 den Inselidolen, wie
er sie nennt, gleich zwei Kapitel
101
. Er behandelt männliche wie weibliche Idole,
löst sich von der orientalischen Deutung und verzichtet auch auf allzu pejora-
tive Äußerungen. Die Männerfiguren sieht er als Abbilder von Musikanten und
Kriegern, die den Toten als Unterhalter oder Knappen mitgegeben wurden, die
Frauenfiguren als Beischläferinnen. Doch nicht nur bezüglich der Deutung be-
müht man sich um mehr Sachlichkeit, auch chronologische Fragen können nun
Dank den Grabungen in Troja, Phylakopi und Knossos besser diskutiert werden.
In seiner 1909 erschienenen Dissertation beispielsweise ordnet Diedrich Fimmen
die Kykladenkultur absolut zwischen 3000 und 2000 v. Chr. ein
102
, was der heu-
tigen Sicht schon sehr nahe kommt. Die Ausführungen dieser beiden Gelehrten
zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind Beispiele für eine mittlerweile sachliche
Auseinandersetzung mit der frühkykladischen Kultur mit Verzicht auf wertende
Begriffe, wie barbarisch. In dieser Zeit entdecken auch die ersten Künstler auf
der Suche nach neuen künstlerischen Ausdrucksformen frühkykladische Plastik
für sich, wie zum Beispiel Jacob Epstein, dem bereits 1902 die frühkykladischen
Idole im Louvre positiv auffielen
103
. Verwandt mit dieser Entwicklung ist auch das
Studium „primitiver“ Schnitzereien im Dresdner Museum für Völkerkunde durch
98
Tsountas 1898, 137 m. Anm. 1.
99
Edgar 1904, 85.
100
Bosanquet 1896; Edgar 1897; Bosanquet 1897.
101
Müller 1906, 57–64.
102
Fimmen 1909, 23–26. Tab.
103
Epstein 1955, 12.