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Ich beschließe den Überblick über die Zeit, als die Entdeckungen der ersten Grie-
chenlandreisenden verarbeitet wurden und Kykladenidole erstmalig ihren Weg
in Sammlungen fanden, mit zwei Werken. Die Autoren konnten nun auf einen
Grundbestand an Kykladika zurückgreifen und Ludwig Ross’ grundlegende Be-
obachtungen verarbeiten.
Johannes Overbecks (1826–1895) monumentales Werk „Geschichte der griechi-
schen Plastik für Künstler und Kunstfreunde“ von 1857 bildete im 19. Jahrhundert
lange das Referenzwerk für die griechische Plastik. Der Autor äußerte sich auch
hier zu den Kykladenidolen, wenn auch nur unwillig am Ende seiner Besprechung
frühester griechischer Plastik: „Das ist alles, was wir von Monumenten dieser äl-
testen Epoche griechischer Plastik kennen; denn wir mögen hier nicht jene kleinen
etliche Zoll langen Scheusale aus Marmorsplittern anführen, die an verschiedenen
Orten, namentlich auf den Inseln gefunden worden sind, da sich durch Nichts er-
weisen lässt, dass sie der griechischen Bevölkerung dieser Orte und nicht vielmehr
einer „älteren Culturschicht“ angehören. Und da sich an diesselben unbedingt kei-
ne Consequenzen für die Fortentwicklung der Kunst anknüpfen, so brauchen sie
in einer Geschichte der griechischen Plastik nicht berücksichtigt zu werden“
41
. In
einem anderen Kapitel geht Overbeck sogar noch weiter und möchte im Zusam-
menhang mit Kykladenidolen nicht einmal von Skulptur sprechen: „Nur sollte
man für das Uralterthum der Marmorsculptur nicht jene schon oben erwähnten
kleinen äusserst rohe Figürchen geltend machen wollen, die in nicht unbeträcht-
licher Anzahl in verschiedenen Gegenden Griechenlands gefunden worden sind.
Denn abgesehen davon, dass diese Statuetten von kaum menschlicher Gestalt [...]
schwerlich überhaupt der griechischen Bildnerei angehören, sondern wahrschein-
lich fremden Stämmen der ersten Urzeit, ist ein grosser Unterschied zwischen der
Darstellung eines solchen allerrohesten Idols von 6–8 Zollen aus einem beliebi-
gen Marmorsplitter und demjenigen, was wir als Marmorsculptur im eigentlichen
Sinne betrachten, und wovon wir erwarten können, dass es historisch überliefert
worden sei“
42
.
Johannes Overbeck hat Schwierigkeiten, die frühbronzezeitliche Plastik der Ky-
kladen überhaupt als Kunst zu sehen und sieht keine Veranlassung, sich mit deren
abstraktem Stil auseinanderzusetzen. So hart und vernichtend sein Urteil auch ist,
wir müssen jedoch bedenken, dass er die Idole stets an den Höhepunkten grie-
chischer Plastik misst und damit durchaus das Kunstempfinden seiner Zeit wie-
dergibt. Sein Buch erlebte noch drei weitere Auflagen (1869, 1881, 1893). In der
41
Overbeck 1857, 41 f.
42
Overbeck 1857, 79 f.