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„innere Wirkung aus der grossen Literatur des vergangenen Jahrhunderts, insbe-
sondere von Goethe oder Winckelmann [...]; eine höhere Mitgift vaterländischer
Bildung blieb ihm versagt. Darum erhob er sich in seinen Lieblingsstudien selten
über ein allgemeines enthusiastisches Verständniss, [...] im Grunde verhielt er sich
zu Homer wie ein Orthodoxer zur Bibel. Auch persönliches Feingefühl für bilden-
de Kunst, selbst für die griechische, die ihn doch jederzeit ehrlich begeisterte, hat
sich ihm nicht entwickeln wollen; unbedenklich durchbrach er die hellenistischen
Ueberreste des Apollotempels von Ilion, um in die homerische Tiefe zu dringen.
[...] Er war und blieb Autodidakt [...] Seine Unternehmungen begannen phanta-
stisch, so dass der literarische Dilettant eine Kritik zu verbüssen hatte, die nicht
ohne Berechtigung war; aber in erstaunlicher Eile lernte er ja, aus dem rücksicht-
losen Finder wurde im Laufe der Jahre ein Forscher, und das Glück, das keinem
grossen Gelingen fehlen darf, ist ihm überraschend treu geblieben.“
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Benndorf konzediert Schliemann mit diesen Worten, eine beachtliche Entwick-
lung durchgemacht zu haben, und er vergisst dabei nicht, die wissenschaftliche
Bedeutung von Schliemanns Funden, die „über sein und unser aller Verständniss
hinaus(wuchs)“, zu betonen: „In ungeahnter Weise haben sie die ehrwürdige äl-
teste Ueberlieferung des Griechenthums erhellt, die historische Auffassung der
Sagenpoesie vertieft, neue weite Forschungsgebiete eröffnet.“ Schliemann und
seinen Mitarbeitern, vor allem Virchow und Dörpfeld, sei es zu danken, „wenn
sich in die Geschichte des Alterthums jetzt ein neues Capitel einfügt, welches der-
einst die eigenthümlichen Ursprünge und das allmälige Entstehen der hellenischen
Civilisation, soweit dies fassbar und erreichbar ist, klarlegen wird.“
ImAnschluss an diesen Nachruf ergriff Benndorf sogleich ein weiteres Mal in der
Versammlung das Wort und hielt passender Weise einen Vortrag zur archäologi-
schen Homerforschung, „welche durch das Lebenswerk Schliemann’s einen so
mächtigen Aufschwung erhielt“, sprach über „Antike und moderne Labyrinthe“
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und nahm als Ausgangspunkt das bekannte etruskische Vasenbild des Tonkruges
von Tragliatella – ein Thema, über das er zu einem Artikel von Max Büdinger
Ergänzungen verfasst hatte
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und weswegen im Laufe des Jahres Boetticher mit
ihm noch korrespondierte.
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Ob Benndorf, ein großer Verehrer Goethes, mit seinem Nachruf auf Schliemann bewusst an den
Nachruf Goethes auf Winckelmann anspielen wollte, sei dahingestellt. Auf den topischen Vergleich
von Archäologe und Entdecker und gewisse Übereinstimmungen von „Johann Wolfgang Goethes
Winckelmann-Nachruf, der in vielem (ärmliche Herkunft, ,Berufung’, Autodidaktentum) die späte-
ren Schliemann-Clichés präfiguriert“, hat Zintzen 1998, S. 263 hingewiesen.
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Benndorf 1891b.
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Benndorf 1890.
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s. dazu Zavadil 2009, S. 28. 328 Nr. 202.