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Der Reisebericht
26. September 1882
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«Chiasso! Aussteigen! Gepäcksvisitation!» Eiligst verliessen wir den halbdunkeln
Waggon und betraten eine grosse Halle. Da wogte auf der einen Langseite ein
Chaos von 3-400 sich drängenden, puffenden, schiebenden, lebhaft unterhalten-
den Gotthardreisenden, von Packträgern, welche mit stolzem Gleichmuth ächzen-
de und krachende Koffern auf den langen Tisch schmissen, und Zollbeamten, die
hinter demselben stehend, klug ihres Amtes warteten. Die andere Seite der Halle
lag einsam; nur unsere Kinder standen dort, hüteten mit gesammelten Mienen Ess-
korb und Reisedecken, und sahen aus, wie zwei Blumen am Abgrund. Nach meh-
reren erfolglosen Versuchen, uns dem Gedränge und dem zügigen Lokale durch
raschen Vorweis der Reiseeffekten zu entziehn, fand sich endlich ein freundli-
cher Beamter, der, ohne sie zu öffnen, ihnen sein Viso aufkreidete, die gebotene
Erkenntlichkeit aber mit stolzer Würde zurückwies. (...) Festgekeilt stand Eins
am Andern; das Handgepäck belästigte und ermüdete die Arme, die Augen irrten
interesselos an den getünchten Wänden, über die kümmerlich beleuchteten Men-
schen hin, 5, 10, 15 Minuten verflossen, - und noch stand man unerlöst. Da zupfte
eine Dame mich am Ärmel: «wollen Sie Schliemann sehn?» «Natürlich!», rufe ich
erfreut. «Dort!» Sie wies auf einen kleinen Mann mit energischen Zügen und kur-
zem, grauem Haar, der, von schwachem Streiflicht getroffen, jung und unterneh-
mend aussah. Nochmals zupfte mich die Dame und deutete auf eine Erscheinung,
welche durch die hochgehaltene Kartonschachtel ihre Umgebung weit überragte.
«Das ist seine Frau!» Während ich hinsah, begann die Schachtel, sich stattlich und
langsam in der Luft zu bewegen, denn die Thüre war aufgegangen, der Knäuel
löste sich. Alle strebten durch die schwarze, triefende Nacht den Waggons zu, und
wir rollten der lockenden, an Wundern reichen Ferne entgegen
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27. September 1882
Schon war der Zug zur Abfahrt bereit, und wir fanden nur mehr in einem halb
angefüllten Waggon Platz. Die Fremden rückten in die Ecken, wir richteten uns
in der Mitte ein, recognoscirten dann das Terrain, und siehe, Heinrich Schliemann
ist vor uns, nicht zu verkennen, trotzdem das Tageslicht seine Physiognomie all
der Frische und Jugendlichkeit entkleidet hat, welche das künstliche Licht ihr
am Abend verlieh. Bescheiden sitzt er in seiner Ecke, ein altersmüder Mann, mit
stillen, forschenden Augen und gütigem Gesichtsausdruck. Er ist klein, von un-
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Orthographie, Interpunktion und Unterstreichungen folgen dem Originalmanuskript.
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Anna und ihre Begleiterinnen übernachteten in Mailand und besichtigten am Morgen des 27. Sep-
tember den Dom und die Galleria Vittorio Emanuele II. Diese Partie fehlt hier; nächster Treffpunkt
ist der Bahnhof von Mailand.