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Seite 49

Informationsblatt 27 März 2016

Beiträge und Berichte

„Den Zorn singe, Göttin, des Peleus-Sohns Achilleus, Den ver-

derblichen, der zehntausend Schmerzen über dieAchaier brach-

te…“, dröhnt es über das Heck unserer Segelyacht. Wir haben

auf dem Weg nach Norden, zu den Dardanellen, Lesbos auf

der Ostseite umfahren und ankern nun zur Nacht an der Süd-

westspitze der Troas. Die Ausläufer des Idagebirges schützen

uns vor dem straffen Meltemi. Der Tempel des Chryses liegt in

Sichtweite. Agamemnon, der „Herr der Männer“, Oberbefehls-

haber der griechischen Flotte, Herrscher von Mykene, und wie

es so oft heute noch die Mächtigen tun, stets von falschen Vo-

raussetzungen ausgehend, raubt in seiner Selbstüberschätzung

Chryseis, die Tochter des Tempelpriesters. Ob dieses Frevels

senden die Götter die Pest ins Lager der Griechen, und der Feld-

herr muss seine Beute zurückgeben. Er fordert daraufhin von

Achill, Briseis herauszugeben, da ihm ja wohl ein Ehrgeschenk

zustehe. Diese Erniedrigung Achills entfacht zum ersten Mal

den gefürchteten Zorn des besten aller Krieger.

Damit sind wir beim ersten Vers der Ilias und doch schon mit-

ten drin. Hat man sich einmal an die gutturale Sprache des Rolf

Boysen gewöhnt, der über acht Stunden im Residenztheater

München die Ilias liest, versöhnt man sich auch mit der Scha-

dewaldtschen Übersetzung. Bei Voß lauten die ersten Zeilen:

„Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus, Ihn, der

entbrannt den Achaiern unnennbaren Jammer erregte …“

„Was ist ein Peleiade?“, fragt Latacz in seinem Buch „Troia

und Homer“. Und um zu argumentieren, dass die Zuhörer oder

Leser der Ilias zu Homers Zeiten mit demText und seinen Vorr-

aussetzungen vertraut waren, fragt er weiter: Was ist einAtride?

Und endlich: Was ist ein Menoitiade? Letzterer wird in Vers

307 eingeführt, aber erst 4873 Verse später wird erklärt, dass

Patroklos, der Freund Achills, und der Sohn des Menoitios ein

und dieselbe Person sind!

Der Wind ist etwas schwächer geworden, die Zikaden haben

es aufgegeben gegen Homer anzukämpfen und der Anker hält.

Wir können uns zur Nacht begeben, morgen ist die Insel Tene-

dos unser Ziel, hinter der sich ja die griechische Flotte versteckt

hat, um den Abzug von der Belagerung glaubhaft zu machen.

Damit sind wir aber schon außerhalb

der

Ilias. Ich weiß nicht

mehr genau, ob es die Verantwortung des Kapitäns war, die

mich nicht zur Ruhe kommen ließ, oder die Frage nach der Ili-

as. Selbstverständlich kann Schadewaldt für einen modernen

unvertrauten Leser, Achill gleich als Sohn des Peleus einfüh-

ren und Voß dagegen textgetreuer übersetzen. Das ist nicht die

Frage. Sondern:

Welche

Ilias übersetzen sie? Um es vorweg zu

nehmen und zu überspitzen: Es gibt gar keine! Latacz nennt

sie durchgängig „unsere“ Ilias und meint damit die im 3. Jh.

v. Chr. in der Philologenschule von Alexandreia kanonisierte.

Nehmen wir einen troianischen Krieg (um 1200 v. Chr.) und

einen Dichter Homer (um 800 v. Chr.) an, liegen 400 Jahre da-

zwischen. Die älteste Gesamtdarstellung einer Ilias ist der so

genannte Venetus A (um 1000 n. Chr.), zu Homer liegen also

1800 Jahre dazwischen! Da ist viel passiert. Sehr viel! Scho-

lien, also Zusammenfassungen, Wiedergaben, Erklärungen bis

hin zu Schulübungen gibt es zu vielen antiken, heute oft auch

verloren gegangenen Texten.

Besonders reichhaltig untersucht wurden in der Literaturge-

schichte die Homerscholien. Wie das konkret aussehen kann,

zeigt eine Arbeit von Kuhlmann, 1994, zu den in der Gieße-

ner Universität aufbewahrten Homerpapyri. Ein knapp 18 x

8 cm großes Papyrusstück (2. Jh. n. Chr.) zeigt auf der einen

Seite eine Abrechnung, also Zahlen, eine Summe, einen Mo-

natsnamen. Auf der Rückseite sind 30 Zeilen aus „der“ Ilias.

Diese Textpassage wird dann verglichen mit möglicherweise an

anderen Orten gefundenen Textauszügen zu ebendieser Stelle

und/oder mit schon vorhandenen Kodizes. Ein anderer Papyrus

ist 11 x 18 cm groß (100 v. Chr.), in sorgfältiger Schrift aus-

geführt. Vermutlich gehörte das Bruchstück zu einem antiken

Buch, also einer Papyrusrolle, die wenige Zentimeter breit, aber

mehrere Meter lang sein konnte. Inhaltlich geht es um die wü-

tende Antwort Achills, nachdem man ihm Briseis genommen

und Agamemnon zugeführt hat. Dieser Papyrus ist das älteste

schriftliche Zeugnis für diese Iliasstelle, sagt Kuhlmann. Heute

gibt es etwa 2000 Homerpapyri aus der Zeit vom 3. Jh. vor bis

zum 7. Jh. nach Chr., die in vielen Einzelheiten nicht unerheb-

lich voneinander abweichen.

Der Morgen begrüßt uns mit Sonnenschein. Unser Boot ist bei

starkem Gegenwind kaum um die Südspitze der Troas herum.

Wir schummeln ein wenig, kreuzen nicht mühsam gegen den

Meltemi, sondern motoren nach Tenedos, heute türkisch: Boz-

caada. Wasser, frisches Obst und vor allem einen Leihwagen

brauchen wir, um am nächsten Tag die rossenährende Troas

zu erkunden. Die Südseite von Tenedos besitzt mehrere kleine

Buchten, unterschiedlich tief eingeschnitten. Der Schiffskatalog

in der Ilias listet 1186 Schiffe auf. Wenn auch etliche zu Bau-

zwecken oder als Schutzmauer gebraucht wurden, einige ver-

fault oder verbrannt waren, so blieben doch sehr viele übrig. Te-

nedos hätte kaum hundert Schiffen Sichtschutz geliefert. Dabei

sind die Buchten oft mit gefährlichen Steinen, die knapp unter

der Oberfläche enden, unzugänglich. Sandstrände sind selten,

antike Boote hatten ja keine verlässlichen Anker, fuhren deshalb

an Land. Bis zu einem möglichen antiken Hafen im Norden von

Troia, an den Dardanellen, sind es 50 km! Diese Entfernung ge-

gen Wind und Strömung rudern, können selbst unsere homeri-

schen Helden nicht in einer halben Nacht schaffen, um dort dann

rechtzeitig nach Erhalt des Feuersignals einzutreffen. Von die-

sem Teil des Mythos bleibt leider kein Funken Wahrheit übrig.

Mit dem Segelboot nach Troia – aber mit welcher Ilias?

Der Autor vor Mithymna