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Seite 25

Informationsblatt 24 Dezember 2012

Sonderausstellungen

ferten Vokale und Silben durch die Ausstellung gehen konnten

und so selbst versuchten, die Texte zu lesen. Vorbereitete Über-

setzungen halfen ihnen dabei.

Im Folgenden gebe ich hier noch ein paar Informationen zu

Linear B, die die Besucher auf unseren Tafeln lesen konnten:

1. Im minoischen Kreta (3. und 2. Jt. v. Chr.) existierten meh-

rere Schriftsysteme: sog. Archanes-Schrift (20. Jh. v. Chr.),

kretische Hieroglyphenschrift, Linear A (beide mehrere Jahr-

hunderte danach und z. T. parallel in Gebrauch), der Diskos

von Phaistos (um 1600 v. Chr.) als Sonderform und last but

not least Linear B (ab 16. Jh. v. Chr. oder später). Zahlreiche

Belege letzterer Schriftart gibt es gleichfalls aus der Spätzeit

des mykenischen Griechenlands (16. bis 12. Jh. v. Chr.). Ob-

wohl mittlerweile für Linear A und den Diskos zahlreiche

Entzifferungsvorschläge vorliegen, ist Linear B die einzige

der hier genannten Schriften, die bisher entziffert werden

konnte – am 1. Juni 1952 durch Michael Ventris (1922-1956).

2. Als Heinrich Schliemann (1822-1890) seit 1871 seine groß-

artigen Entdeckungen in Troia, Mykene, Orchomenos und

Tiryns machte, entstand sofort die Frage: Können diese

hochentwickelten Kulturen schriftlos gewesen sein? Die Ge-

schichte zeigt, sobald in einem Gebiet der Erde eine mensch-

liche Gesellschaft eine Entwicklungsstufe erreichte, in der

das Zusammenleben der Menschen und die Wirtschaftsvor-

gänge nicht mehr mit dem Gedächtnis überblickbar waren,

kam es nahezu zwangsläufig zur Erfindung bzw. Verwendung

eines Hilfsmittels, der Schrift. Nun ließ sich z. B. aufzeich-

nen, was wem gehört, wer wem was schuldet, oder Personen-

namen und Ereignisse wurden für die Nachwelt konserviert.

So froh Schliemann über die Ausgrabung des sog. Schat-

zes des Priamos war, noch wichtiger wäre ihm wohl eine

Inschrift gewesen, die eindeutig bezeugt hätte: „Hier stand

der Palast des Priamos.“ „Hier fand der troianische Krieg

statt.“ Doch das blieb ihm versagt. Andererseits: In seinem

„Ithaka“-Buch von 1869 geht Schliemann noch davon aus,

„dass zur Zeit des trojanischen Krieges die Schreibkunst

noch gar nicht erfunden war.“ (S. 110).

3. Sir Arthur Evans (1851-1941) machte sich, nachdem er im

Athener Antiquitätenhandel Siegel mit Bild- oder Wortzei-

chen (sog. Milchsteine, die von stillenden Müttern als Amu-

lett getragen wurden) entdeckt hatte, gezielt auf die Suche

nach dem Beweis der Schriftlichkeit der mykenischen Kul-

tur. Die Spur führte nach Kreta! Bereits in den ersten Tagen

seiner Ausgrabungen auf dem Hügel Kephala (Knossos) fand

er in den Räumen des großen Palastes Hunderte von Tonta-

feln mit unbekannten Schriftzeichen. Joan Evans schreibt in

der Biographie über ihren Halbbruder: “He had come to the

site in hope of finding a seal impression and a clay tablet, and

Time and Chance had led him to discover a civilisation” (Er

kam zu dem Ort in der Hoffnung, einen Siegelabdruck oder

eine Tontafel zu finden, und Zeit und Zufall führten ihn zur

Entdeckung einer Zivilisation – gemeint ist die minoische

Kultur.)

4. Fast genau 100 Jahre nach Schliemanns Geburt wurde Mi-

chael Ventris am 12. Juli 1922 als Sohn wohlhabender Eltern

in Cambridgeshire geboren. Auch er war sprachbegabt. So

beherrschte er neben seiner Muttersprache Deutsch, Franzö-

sisch, Polnisch, Schwedisch und „a bit of Greek“ („ein wenig

Griechisch“). 1936 hörte der 14-jährige Ventris eine Vorle-

sung von Sir Arthur Evans in London. Von da an hatte er das

Verlangen nach der Entzifferung der kretischen Schrift. Er

besuchte aber vorerst die Architektenschule in London (Ab-

schluss durch Kriegsunterbrechung erst 1948). Eine glän-

zende Karriere stand ihm in seinem Beruf bevor. Zahlreiche

Ehrungen bekam er jedoch aufgrund seiner Entzifferung von

Linear B (u. a. Dr. h. c. in Uppsala). Am 6. September 1956

verunglückte Ventris, erst 34-jährig bei einem Autounfall

nahe Hartfield tödlich. Der Philologe John Chadwick und

andere Linear-B-Forscher traten sein Erbe an.

Dr. Reinhard Witte,

Museumsleiter

Tafeln informierten über Linear B und die Geschichte der Entzifferung