Seite 38 Informationsblatt 27 März 2016
Die gleiche Ehre wurde bei dieser Schlacht Dionysios, auch er
Sohn einer Sterblichen, zuteil. Beiden mythologischen Gestal-
ten werden wir bei unserer Reise durch Sagen und Legenden
Siziliens noch wieder begegnen.
Am bekanntesten sind die Taten oder Untaten des berühmten
Zyklopen Polyphem, der ebenfalls am Ätna und der oben schon
erwähnten Küstenregion sein Unwesen trieb. Die Schilderung
über den Aufenthalt von Odysseus und seinen Gefährten auf
der Insel, einschließlich des „Besuchs“ der Höhle des Polyphem
und der Blendung des Riesen, gehört zu den Meisterstücken in
Homers „Odyssee“.
1
Bekannt ist auch, wie sich der nun blinde
Polyphem an Odysseus rächen will, indem er riesige Felsen ins
Meer wirft, um das Schiff amAuslaufen zu hindern. Doch nicht
nur auf Odysseus wirft der Riese die schweren Geschosse. In
seinen Metamorphosen schildert uns der Dichter Ovid die Liebe
zwischen Acis, einem Sterblichen, und der Nymphe Galateia.
Polyphem ist darüber so erzürnt, dass er Acis tötet: „Schleu-
nig verfolgt der Zyklop und ein Stück von dem Berge gerüttet,
schwingt er ihm nach, und wiewohl mit der äußersten Ecke der
Fels nur jenen erreicht, so zermalmt er doch ganz umhüllend
den Acis.“ Galatea verwandelt daraufhin ihren toten Geliebten
in einen vom Ätna kommenden reißenden Fluss, dessen Wasser
sich ins Ionische Meer ergießt, wo sich das Liebespaar für im-
mer vereinen konnte. Heute hat der Aci mehrere Flussarme. An
den Ufern gründeten sich die Städte Aci Castello und Aci Tres-
sa. Hier soll sich die Höhle des Polyphems (Abb. 2) befunden
haben, und die spitzen Felsen im Meer werden als die Wurfge-
schosse des Riesen bezeichnet. Weitere Orte sind Aci Catena,
Aci San Antonio, Aci Bonacorsi und Acireale, wo unser Hotel
mit seinem wundervollen Blick auf das Meer lag.
Auch der trojanische Held Äneas, der mit seinem Vater Anchi-
ses und seinem Sohn Askanios die Flucht aus Troja nach dessen
Zerstörung antrat, wurde nach vielen Abenteuern an die sizilia-
nische Zyklopenküste verschlagen. Bevor er dort landete, hatte
er wie Odysseus und vor diesem auch die Argonauten die be-
1 Anm. der Redaktion: Nur am Rande sei hier vermerkt, dass es unterschied-
liche Lokalisierungen der in der „Odyssee“ auftretenden Sagengestalten
gibt. DasWerk selbst wird heute eher einem Homerschüler als dem „blinden
Sänger“ selbst zugeschrieben.
rüchtigte Meerenge, in der Skylla und Charybdis hausten, zu
überwinden. Allgemein nimmt man heute an, dass damit die
Meerenge von Messina gemeint sein könnte. Als er den Zy-
klopenstrand betrat, war es nachts. Am Morgen näherte sich
ihnen ein ganz in Lumpen gehüllter Mann und bat die Troja-
ner flehentlich, sofort die Küste zu verlassen oder ihn zu töten,
stürbe er dann doch durch Menschenhand, denn hier hausten
die schrecklichen Riesen, Menschenfresser. Er stellte sich als
Achemenides, Sohn des Adamastus aus Ithaka, vor. Er hätte
dem Danaerheer vor Troja angehört und wäre mit Odysseus
und seiner Mannschaft hierher verschlagen worden. Bei der
Blendung des Polyphem hätte er kräftig mitgeholfen, sei dann
aber schwach und krank in einer Ecke der Höhle des Riesen lie-
gend, vergessen worden, als die Mannschaft des Odysseus sich
rettete. Seit vielen Tagen friste er sein Leben in Hunger und To-
desangst. Während er dieses berichtete, sahen die trojanischen
Flüchtlinge Polyphem, wie er sich im Meer die immer noch
blutende Wunde seines Auges wusch. Als er der Menschen ge-
wahr wurde, versuchte er sie beim Auslaufen ihrer Schiffe zu
erhaschen und rief seine Zunft herbei, die der absegelnden Flot-
te böse Blicke nachsandten.
Um den Gefahren von Skylla und Charybdis zu entgehen,
segelte die Flotte entlang der sizilianischen Küste. Als sie in
den Hafen von Drepanum, heute Trapani, an der Nordwestküs-
te Siziliens eingelaufen waren, starb Anchises. Ihm zu Ehren
veranstalteten die trojanischen Flüchtlinge ein feierliches Lei-
chenbegräbnis. Äneas und seine Flotte werden nach Karthago
verschlagen. Die karthagische Königin Dido verliebt sich in
den trojanischen Helden. Jupiter befiehlt Äneas, Karthago zu
verlassen, um, wie ihm verheißen, Italien in Besitz zu nehmen.
Wieder verschlägt es ihn nach Sizilien. Inzwischen ist ein Jahr
vergangen. In Sizilien wird er vom König Acestes, dessen Mut-
ter eine Trojanerin ist, freundlich aufgenommen. In der Nacht
werfen die trojanischen Frauen, der langen Irrfahrten überdrüs-
sig, Feuer in die Schiffe, so dass vier der schönsten verbren-
nen. Im Traum erscheint dem Helden sein Vater, der ihm den
Befehl erteilt, die älteren Frauen und kriegsuntüchtigen Greise
in Sizilien zurückzulassen. Äneas gehorcht und gründet die
Stadt Acesta (heute Segesta), deren Ruinen und den wunder-
schönen Tempel wir besichtigten. Äneas nimmt Italien ein und
seine Nachfahren gründen Rom. Die Annahme, die Elymer in
Segesta seien Nachkommen der geflüchteten Trojaner, vertrat
Thukydides. Archäologische Untersuchungen gehen heute da-
von aus, dass sie vom italienischen Festland stammen.
Damit sind aber die Sagen und Legenden, die sich um den Ätna
ranken, längst nicht erschöpft. Von Dionysos wird berichtet, er
habe in Sizilien eine ihm unbekannte Pflanze mit nach Grie-
chenland gebracht. Dort gedieh sie prächtig und die Früchte
erbrachten nach der Gärung ein berauschendes Getränk. Die
Weinrebe wurde zum Symbol des Gottes.
Auch berichtet die Sage von einem Zustand der Gottlosigkeit
der Menschen, der Zeus ein Ende setzen wollte. Wie in der
Bibel über Noah erzählt, befand Zeus den gerechtigkeitslie-
benden thessalischen König Deukalion und seine Frau Pyrra
für würdig, zu überleben. Sie bauten sich ein Schiff, und als
Zeus eine Flut (Deukalische Flut) vom Himmel herabregnen
ließ, bestiegen sie es und überlebten. Es brachte sie zu den Li-
Beiträge und Berichte
Abb. 2 – Höhle des Polyphem, Villa Romana del Casale