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Informationsblatt 23 Dezember 2011
Berichte und Beiträge
Nach etwa halbstündiger Promenade erschien eine griechi-
sche Dienerin und rief uns zum Abendbrot. Ich fand, in dem
an den Garten anstoßenden Speisezimmer die zwölfjährige
Andromache, bald erschien auch Frau Schliemann, eine schö-
ne stattliche Dame, als zweite Gattin erheblich jünger als ihr
Mann, die mir die größte Liebenswürdigkeit erwies. Sie soll
als geborene Griechin an den Arbeiten ihres Mannes nicht un-
wesentlich Anteil haben. Von jetzt an wurde die Unterhaltung
deutsch geführt, welches Mutter und Tochter geläufig spre-
chen, doch konnte ich den Wunsch nicht unterdrücken, von
Frau Schliemann die ersten Verse der Odyssee einmal in der
jetzigen Aussprache hersagen zu hören und diesen Wunsch er-
füllte sie bereitwilligst.
IhrMann, sagte sie, nähme am liebsten nur solche Dienerschaft,
welche altklassische Namen führe, gefiele ihr deshalb jemand,
so taufe sie ihn um, um sicher zu sein, dass er auch vor ih-
rem Mann Gnade fände. So hieß der bei Tisch aufwartende
Diener Ödipus, eine der Mägde, wenn ich nicht irre, Nausikaa.
Der fünfjährige Sohn, welcher nicht anwesend war, heißt
Agamemnon.
Die Tochter deklamierte auf meine Bitte ein Gedicht Wilhelm
Müllers. Mit dem berühmten Sohn des Dichters ist Schliemann
persönlich befreundet und hofft, in diesem Sommer in Dessau
mit ihm zusammen zu kommen. Auch auf Fritz Reuter kam
die Rede, den engen Landsmann Schliemanns. Als ich die
Zeitungsnachricht mitteilte, dass dessen Witwe ihre Villa am
Fuße der Wartburg verkaufen wolle, schien Frau Schliemann
nicht übel Lust zu haben, ihrem Mann zum Erwerb derselben
zuzureden. Bei seinem großen Vermögen, dessen jährlicher
Betrag man höher als 200.000 [Mark] schätzt, dürfte der Preis
keine Rolle spielen.
Hocherfreut, einen so berühmten Zeitgenossen in seiner
Häuslichkeit kennen gelernt zu haben, kehrte ich um acht Uhr
in mein Gasthaus zurück. Die Gelegenheit, ihn am folgenden
Tag nochmals zu sprechen, entging mir, denn als ich von ei-
nem Rundgange durch die Stadt nach Hause kam, fand ich sei-
ne Karte vor.“
Frau Dr. Gerda Siebert, Enkelin des Reiseberichterstatters, im
Jahre 2007 hochbetagt 97-jährig verstorben, fand im familiä-
ren Nachlass den Bericht ihres Großvaters.
Wir danken Frau Sigrid Born, Wuppertal, für die Übermittlung
des Berichts und der Lebensdaten ihres Urgroßvaters.
Wolfgang Schuboth,
Potsdam
Lehrbuch der russischen Sprache