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Seite 59

Informationsblatt 27 März 2016

Beiträge und Berichte

Henry Schliemann befand sich im Sommer 1866 auf einer Reise

die Wolga abwärts, entlang der nördlichen Schwarzmeerküste,

dann die Donau aufwärts und über Dresden, Leipzig und

Genf nach Paris. Am 30. August, einem Dienstag erreichte er

Odessa. Hier blieb er mehrere Tage, an denen er sich nicht für

die griechischen Altertümer in der Umgebung der Stadt, z. B.

das entfernt liegende Olbia interessierte. Er war ganz gefangen

genommen von einem Mordfall an einem griechischen

Priester. Ob es eine Beziehung zwischen Schliemann und dem

Mordopfer gab, ob Schliemann mit ihm bekannt war, ließ sich

bislang nicht feststellen. Das Verbrechen scheint Schliemann

in außerordentlicher Weise gefesselt zu haben, so dass er mit

eigenen Recherchen begann, um die grausame Tat aufzuklären

und die Hintergründe zu verstehen. Hier nun die originalen

Aufzeichnungen von Henry Schliemann-Holmes.

Odessa, Dienstag, 30. August:

„... Ich bin zum Strandbad

gegangen und hörte von dem Wächter, dass die Tuberkulose

und der Tod des ehrwürdigen Georgios Vengleris auf die

Schläge von vier Arbeitern eines gewissen Sevastopoulos

zurückzuführen seien und nicht auf die Influenza und die

Erkältung, die der heilige Mann sich während einer Litanei oder

priesterlichen Funktion geholt haben soll. Alle hier sind sich

darüber einig, dass Ehrwürden ein wahrer Sohn des geistvollen

Menschenschlags, sich findend am Mittelmeer, gewesen ist.

Jeden Sonntag improvisierte er Predigten, die alle Zuhörer in

Erstaunen versetzten, und mit gen Himmel gerichteten Augen

und die einfachen Gebete wortgewaltig vortragend, bezauberte

er die Frauen dermaßen, dass sie in ihm den Heiligen Geist

personifiziert sahen. Verständlich, dass dabei jede Frau den

Wunsch hegte, sie möge den Segen des göttlichen Geistes für

sich allein genießen dürfen. Aus diesem Grunde überschütteten

sie ihn mit allerlei Briefchen, enthaltend Beteuerungen

ewiger Liebe und den Wunsch, in Zeiten der Abwesenheit des

Ehegatten [von ihm – A. J.] besucht zu werden. Da aber die

Beschäftigungen und vielleicht auch die Kräfte des heiligen

Mannes es ihm nicht erlaubten, dem Verlangen aller Frauen zu

entsprechen, wählte er – auch auf Grund der Urteilskraft, die ihn

auszeichnete – unter den heißblütigen Töchtern der südlichen

Sonne – nur dieEhefrauen der 7Konsuln und reichstenKaufleute

von Odessa aus, den anderen jedoch las er das Evangelium

nur dann vor, wenn er nicht die Gelegenheit hatte, es bei den

gesagten 7 zu tun. Wegen einer solchen Verhaltensweise ist er

während der ersten 4 Jahre seiner Anwesenheit hier zum Idol

nicht nur aller hier wohnenden Vertreter [unterstrichen von H.

Schliemann-Holmes – A. J.] der geistvollen mittelmeerischen

Menschengattung, sondern auch aller hier lebenden Russen

geworden, so dass er durch diese Beziehungen solch ein

Ansehen erwarb und einen Respekt erntete, dass er mächtiger

wurde als der Erzbischof selbst. Allmählich aber ging das

Gerücht um, dass der Ehrwürdige verwerfliche [unterstrichen

von H. Schliemann-Holmes – A. J.] Beziehungen zu den

besagten ehrbaren Damen pflegte, deren Ehemänner nun

zusammentrafen, um zu beraten, was zu tun wäre. Jeder von

ihnen bekräftigte durch einen großen Schwur, dass das Gerücht

eine Lüge sei, dass die eigene Frau ein Unschuldsengel wäre

und der Archimandrit ein überaus heiliger Mann. Doch einer

von ihnen, Sevastopoulos, beschloss, seine Frau auf die Probe

zu stellen. Zu diesem Zwecke sagte er ihr, er müsse nach Valda

fahren, woher er nicht vor übermorgen zurückkehren würde. Er

packte einige Wäschestücke in seinen Reisesack und gab vor,

sich auf den Bahnhof begeben zu wollen. Er nahm auch seinen

Diener mit sich. Anstatt aber zum Bahnhof zu gehen, zog er in

das Hotel „London“ und versprach seinem Diener eine schöne

Belohnung, wenn er schweigen und ihm sofort Meldungmachen

würde, sollte Ehrwürden in sein Haus gekommen sein. Gegen

10 Uhr abends kam sein Diener atemlos mit der Nachricht zu

ihm, dass seine Heiligkeit bereits in seinem Haus sei. Da kehrte

Sevastopoulos heimlich in sein Haus zurück, weckte seine

vier Arbeiter, bewaffnete sie mit großen Knüppeln und stieg

mit ihnen zusammen hinauf bis vor die Tür des Schlafzimmers

seiner Frau. Mit vereinten Kräften brachen alle fünf die Tür

auf, und Sevastopoulos erblickte den heiligen Mann und seine

züchtige Frau, beide völlig ausgezogen, zusammen auf dem

Sofa sitzend. Der Archi(mandrit) erhob sich, um zu gehen,

aber Sevastopoulos und seine Arbeiter packten ihn, warfen

ihn zu Boden und schlugen mit den Knüppeln und Fäusten auf

ihn ein, auf den Kopf, den Hintern, den Bauch, die Brust, die

Glieder usw. Dabei brachen sie ihm eine Rippe, die die Leber

durchbohrte und den Mann tödlich verletzte. Durch die vielen

schrecklichen Knüppelschläge und Hiebe hatten sie ihm auch

die Lungen tödlich verletzt. Aber obwohl der Unglückliche

schon seit einer Weile bewusstlos dalag und obwohl das Blut

wie ein Fluss aus seinem heiligen Mund strömte, schlugen

die Wüteriche weiter auf ihn ein. Schließlich trugen sie ihn

wie tot in den Wagen und schickten ihn nach Hause. Am

nächsten Morgen wusste die ganze Stadt [unterstrichen von H.

Schliemann-Holmes – A. J.] über die abscheuliche Tat in allen

Details Bescheid, und mich wundert es, dass in Petersburg die

Wahrheit nicht bekannt wurde: aber natürlich, denn dorthin

sind die falschen Nachrichten durch den selben Menschen

[unbekannt – A. J.] weitergegeben worden, der vor einigen

Jahren schlechte Auskünfte über unseren Freund Pappadakkos

den Eltern seiner mittlerweile verstorbenen Schwiegertochter

gab. Der Schwiegervater von S(evastopoulos) gab ihm 40

Tausend Rubel, damit er schweigt und sich nicht von seiner

Frau scheiden läßt. Nach der oben erzählten Begebenheit lag

der heilige Mann noch 4 oder 6 Wochen in hoffnungsloser

Lage danieder und fast immer bewusstlos. Aus Angst vor den

Folgen, wenn der Sohn hier stürbe, ließ S(evastopoulos) ihn

durch seine Freunde zu seinen Eltern nach Konstantinopel

schicken, und dort gab er, gleich nach seiner Ankunft, seinen

Geist auf. Sein Vater gab zwei Ärzten die Order, seinen heiligen

Leib zu öffnen, und die Nachkommen des Äskulap entdeckten

Mord in Odessa

Tathergang – Hintergründe – Motive

Aufgeschrieben von Henry Schliemann-Holmes (Kaufmann, Börsianer, Archäologe und – kurzzeitig – Detektiv)

Herausgegeben von Armin Jähne